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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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unablässig die Funken löschen, die auf ihr kleines Ford-Sanitätsauto herabregnen. Und wenn sie fährt, muss sie pausenlos hupen, um sich einen Weg durch die Scharen von Menschen zu bahnen, die teils hysterisch und panisch, teils niedergeschlagen bis zur Apathie wirken. Sie stellt fest, dass die Leute vornehmlich große Spiegel und Bettgestelle aus Bronze aus ihren Häusern bergen. Als die Flammen schließlich den Hafen und das Meer erreichen, wird ihr klar, dass sie inzwischen eine fünf Kilometer lange Feuerwand von der Garage trennt. Dennoch fährt sie weiter. Ihr geht das Benzin aus, sie läuft zu Fuß und findet schließlich neuen Treibstoff.
    In dem vom Feuer erleuchteten Chaos löst sich auch die militärische Disziplin rasch auf. Wie so oft mischen sich Selbstlosigkeit und Heldenmut mit Eigennutz und Feigheit. Eine Welle von Plünderungen setzt ein. Große Weinfässer platzen in der Hitze. Der Wein ergießt sich über die Straße «wie Blut», plätschert im Rinnstein. Soldaten wie Zivilisten werfen sich auf den Boden und trinken die Brühe. Als King zum zweiten Mal an der nach Alkohol stinkenden Stelle vorbeifährt, sieht sie überall vom Alkohol betäubte, mit Erbrochenem besudelte Menschen liegen. Ein Munitionslager explodiert mit einem gewaltigen Knall. Hier und dort kommt es zu Schießereien.
    Als nach einer langen Nacht die Sonne wieder aufgeht, liegt so dichter Brandrauch über der Stadt, dass es gar nicht richtig hell wird. King will zum Hafen hinunter. Sie fährt Schlangenlinien zwischen den verbrannten Stromleitungen der Straßenbahn, die auf die Straße herabhängen. Sie sieht Zivilisten und Soldaten, die auf der Jagd nach Beute in noch rauchenden Ruinen graben.
    Olive King hat über zwanzig Stunden am Steuer gesessen. Als sie erschöpft und hungrig in ihre Unterkunft zurückkehrt, um zu schlafen, findet sie im Flur eine obdachlos gewordene Frau mit neun Kindern. Fast die halbe Stadt ist niedergebrannt, 80   000 Menschen haben ihr Zuhause verloren. Die Löscharbeiten werden fast zwei Wochen andauern. Für den Rest des Krieges bleibt die Stadt eine rußgeschwärzte Ruinenwüste. Das alte Saloniki wird nie wiederauferstehen.

159.
    Sonntag, 26. August 1917
    Harvey Cushing darf die «dreidimensionale Karte» sehen
     
    Die Front ist ruhig, doch die Ruhe ist nicht von Dauer. Das wissen alle. Der Vormittag vergeht hauptsächlich damit, dass die Verbände der Verwundeten gewechselt werden. Cushing beobachtet, dass sich viele von denen, die er zuvor operiert hat, offenbar erholen – oder liegt es nur daran, dass seine eigene Stimmung sich verbessert hat, nachdem er zwei Nächte in Folge hat schlafen können?
    Nennenswerte amerikanische Kampfverbände sind noch nicht vor Ort, deshalb sind Cushing und seine Lazaretteinheit in den Norden verlegt worden, an die Front in Flandern. Seit Ende Juli findet dort eine neue britische Offensive statt, die bisher größte. Das Ereignis hat bereits einen Namen: Die dritte Schlacht bei Ypern.
    Zuvor gab es vier große Angriffe. Es hat fast die ganze Zeit geregnet. Das Schlachtfeld hat sich in ein Meer aus Schlamm verwandelt. Bis heute waren die Erfolge ebenso gering wie die Verluste hoch. Aber es ist schwierig, hierüber etwas zu erfahren. Nur wenige haben den Überblick, die Zensur ist streng und die offiziellen Kommuniqués sind nichtssagend. Cushing versteht es inzwischen jedoch ziemlich geschickt, sich ein Bild von den Ereignissen zu machen, indem er den Strom von blutenden Soldaten präzise beobachtet, die von einer, wie es scheint, endlosen Reihe lehmverschmierter Sanitätswagen zu ihnen transportiert werden. Wie viele Verwundete sind es? Wie ist ihre Stimmung? Wie lange haben sie gebraucht, um den Verbandsplatz zu erreichen? In der Regel sind die Verletzten so mit Schlamm bedeckt, dass es enorm viel Zeit kostet, sie auszuziehen, den Schlamm abzuwaschen und die Wunden zu finden. Denen, die ihre Tetanusimpfung erhalten haben, wird mit Anilin ein «T» auf die Stirn geschrieben. Neben dem Krankenhaus liegt ein stetig wachsender Friedhof. Die Gräber werden von chinesischen Arbeitern in blauen Tuniken ausgehoben.
    Cushings Spezialgebiet sind schwere Schädelverletzungen. Er versucht, acht Operationen pro Tag zu schaffen. Die Eingriffe nimmt er in einem Zelt vor, dabei trägt er eine dicke Gummischürze und Marschstiefel. Es gelingt ihm immer wieder, mit äußerster Behutsamkeit und mit Hilfe eines kräftigen Magneten Granatsplitter aus den Schädeln der

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