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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Bäume im Parc Solvay und der geriffelte Wasserspiegel des Wasserreservoirs. Dort: sein Elternhaus, ein hohes weißes Haus mit rotem Dach. Zu Hause! Coppens legt die Maschine in eine scharfe Rechtskurve. In einem Fenster sieht er die Silhouetten von zwei Frauen, er schließt blitzschnell, dass eine von den beiden seine Mutter sein muss. Auf der Rückseite sieht er das Fenster seines Jugendzimmers. Durch die spiegelnden Scheiben kann er rote Gardinen erahnen, und aus irgendeinem Grund muss er an das Modellflugzeug denken, das vor acht Jahren an der Decke hing und vermutlich immer noch dort hängt, irgendwo im Innern zwischen den Schatten.
    Nach einem dreizehnminütigen Flug über Brüssel entfernt sich Coppens von den vielen Dächern und Gassen, Palästen und Avenuen. Er fliegt zurück nach Gent und von Gent direkt nach Diksmuide und zur Front. In der Ferne glitzert die Nordsee in der Sonne. Ihm wird klar, dass er wahrscheinlich heil zurückkehren wird, und er fühlt sich erleichtert. Doch dieses Gefühl ist nur von kurzer Dauer:
     
Aber als ich darüber nachdachte, was ich gerade erlebt hatte, und an meine Eltern dachte, wurde ich wieder einmal von Verzweiflung gepackt, und die ließ mich gleichsam innerlich schrumpfen. Ich habe nie wieder einen solchen, beinahe unerträglichen seelischen Schmerz erlebt.
     
    Um 10.45 Uhr landet Coppens im Gleitflug auf dem Flugplatz bei Les Moëres. Er sieht die schmalen Baracken, die Hangars aus grüner Persenning. Inzwischen ist sein «Gefühl von Deprimiertheit einem Gefühl des Triumphs gewichen», und er lacht fast hysterisch, als er aus dem Cockpit springt. Er streicht mit der Hand über die heiße Motorhaube und spaziert singend davon.

186.
    Ein Tag im Februar 1918
    Pál Kelemen wird Zeuge eines Unglücks an der Gebirgsstraße bei Caldonazzo
     
    Er ist noch immer an der nördlichen Alpenfront in Italien, mit Aussicht auf die Ebene von Friaul. Bei sehr klarem Wetter kann man das Mittelmeer in weiter Ferne als glitzernden Strich erahnen. Gerüchte sprechen von einer neuerlichen österreichisch-ungarischen Offensive, aber woher die Kraft dazu nehmen? Der Mangel an Nahrung und Munition ist akuter denn je, und die meisten Einheiten liegen weit unter ihrer nominellen Stärke. Es ist allmählich wieder wärmer geworden.
    Der hochgelegene Abschnitt, an dem Kelemen sich befindet, erhält seinen Nachschub mit Lastwagen. Es gehört viel Geschick dazu, die schweren und sperrigen Fahrzeuge auf Straßen zu manövrieren, die sich in Serpentinen an steilen Berghängen entlangschlängeln. Pál Kelemen notiert in sein Journal:
     
In dem schönen, sonnigen Wetter taucht ein General in seinem Automobil auf, um eine der Befestigungen zu inspizieren. An seiner Seite sein unvermeidlicher Helfer: ein arroganter Offizier des Generalstabs. Das Auto braust rücksichtslos vorwärts, unter ständigem Gehupe, um den schweren Proviantlastwagen schon von weitem zu signalisieren, dass sie zur Seite fahren sollen. Einer fährt so weit zur Seite, wie es nur geht, und trotzdem kommt das große, glänzend lackierte Automobil nicht an ihm vorbei.
Der Generalstabsoffizier lehnt sich hinaus, brüllt wütend: «Mach Platz, du Schwein!» Und das arme Schwein macht so viel Platz, dass sein Lastwagen umkippt und in den Abgrund stürzt.

187.
    Montag, 11. März 1918
    Michel Corday sieht ein Theaterstück in der Comédie-française
     
    Anatole France’ Stück Les noces corinthiennes hat Premiere in der Comédie-Française in Paris. Michel Corday und seine Frau sind natürlich dort. Mitten im zweiten Akt wird die Vorstellung unterbrochen. Einer der Schauspieler tritt an die Rampe und verkündet, dass es Luftalarm gegeben habe und deutsche Bomber wieder einmal auf dem Weg nach Paris seien. Aus dem Parkett sind Stimmen zu hören: «Weitermachen!»
    Die Schauspieler setzen die Vorstellung fort, obwohl etwa ein Fünftel des Publikums gegangen ist. Corday ist unruhig. Am liebsten würde auch er das Theater verlassen, aber er schämt sich vor all den Bekannten in den Logen und bleibt mit seiner Frau sitzen. Ein seltsames Erlebnis. Durch die hochtönenden Repliken der Schauspieler dringt das Geräusch heulender Sirenen, und um 21.25 Uhr sind die ersten Bomben zu hören; es klingt wie ein dumpfes und langsames Trommeln. Paris ist seit dem Jahreswechsel mehrmals bombardiert worden, zuletzt vor drei Nächten. Die Bomber – große zweimotorige Apparate vom Typ Gotha  5 oder noch größere viermotorige Monstren vom Typ

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