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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Zeppelin Staaken – fliegen ihre Angriffe immer erst, wenn es dunkel ist. Der Nachthimmel wird dann von Scheinwerfern, explodierenden Luftabwehrgranaten und den Silberstreifen der Signalraketen erleuchtet.
    Paris ist inzwischen ganz und gar verdunkelt. Nach Sonnenuntergang suchen sich die Menschen ihren Weg mit kleinen Taschenlampen (auch die Kriminellen nutzen die Situation aus; Straßenraub ist häufiger geworden). In den Straßenbahnen und der Metro sind die Glühbirnen blau angemalt, und Corday hat den Eindruck, dass ihr Schein den stark geschminkten Gesichtern der Straßenhuren das Aussehen «verwesender Leichen» verleiht. Wichtige Gebäude und Monumente sind in einen schützenden Mantel aus Sandsäcken gehüllt, und an den Schaufenstern der Geschäfte sieht man interessante Muster aus Papierstreifen, die dort aufgeklebt worden sind, um das Risiko zu vermindern, dass sie splittern. Nach dem Angriff am 30. Januar hat Corday in den Bäumen vor einem ausgebombten Haus an der Avenue de la Grande-Armée Fetzen von Gardinen und Textiltapeten und einen rosa Damenstrumpf flattern sehen. In den Häusern rings herum fehlten die Fensterscheiben. Dienstboten waren dabei, die Glassplitter zusammenzukehren und die Fenster provisorisch mit Zeitungspapier zu reparieren.
    Aufgrund der Dunkelheit und der großen Höhe, aus der die Bomben abgeworfen werden – in der Regel über 4000 Meter – können die Flugzeuge keine ausgewählten Ziele treffen. Es ist ein reines Terrorbombardement, wenn auch in begrenztem Umfang. Die Angriffe haben eine gewisse Wirkung erzielt. Die Menschen beginnen, aus Paris zu fliehen. Auch die britische und die französische Luftwaffe fliegen solche Angriffe gegen deutsche Städte, die sie erreichen können, wie Stuttgart, Mainz, Metz, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg und Frankfurt.  6 Die Stadt in Europa, die, von Dover abgesehen, am häufigsten bombardiert wurde, ist jedoch London. Erst von deutschen Zeppelingeschwadern, dann, als sich ein Großeinsatz 1916 nicht bewährte  7 , von schweren Bombern. Trotzdem war die Zahl der Opfer nicht besonders hoch, das Maximum lag bei 162 Toten nach einem Angriff tagsüber am 13. Juni 1917.  8 Doch bedeuten diese Bombardements einen weiteren Tabubruch. Die Angriffe haben kein anderes Ziel als die unbewaffnete Zivilbevölkerung. In Cordays Augen ist dieses Vorgehen – barbarisch.
    In der Pause zwischen dem zweiten und dritten Akt tasten sich Corday und seine Frau in das verdunkelte Foyer. Es ist leer, abgesehen von einer Voltaire-Statue, die hinter einer Pyramide aus Sandsäcken versteckt ist. Die Pause ist ungewöhnlich lang. Man diskutiert mit dem Theaterdirektor, ob die Vorstellung abgebrochen werden soll, und beschließt, weiterzuspielen, obwohl der Bombenangriff noch nicht beendet ist. «Natürlich», kommentiert Corday säuerlich. Er glaubt zu wissen, dass im Grunde alle gern nach Hause gehen würden, letztlich aber da bleiben, «aus Angst vor der Kritik der anderen, die den gleichen Wunsch haben. Stolz bedeutet mehr als der Tod!»
    Es kehren also alle in den Saal zurück, und der dritte Akt wird gespielt. Als der Vorhang fällt, ist der Angriff draußen immer noch nicht beendet. Die Schauspieler bieten dem Publikum an, im Keller des Theaters Schutz zu suchen. Corday und seine Frau folgen dem Strom der Menschen in Abendgarderobe hinunter in die gewaltigen Gewölbe, wo jetzt all die Marmorbüsten verstaut und mit Planen bedeckt sind, die früher das Theater geschmückt haben. Corday sieht, wie ein Mann in Uniform seine Mütze auf Molières Kopf setzt. Die Stimmung unten im Keller ist gedämpft und apathisch. Eine Schauspielerin versucht die Wartenden zu zerstreuen, indem sie Gedichte rezitiert.
    Um Mitternacht ruft jemand, dass keine Bomben mehr fallen. Als sie aus dem Theater kommen, liegt Dunst über den Straßen. Lichter von Taschenlampen irren im Nebel umher.
***
    Am nächsten Morgen machen Corday und seine Frau einen Spaziergang im Frühlingswetter. Am Boulevard Saint-Germain sehen sie sechs Krater. Und an der Rue de Lille ist eine Bombe direkt vor dem Gebäude eingeschlagen, das früher die deutsche Botschaft beherbergte; die Haustür ist eingedrückt. Sie machen einen Besuch bei Anatole France, der gestern ebenfalls im Theater war.
    Wie sich zeigt, war die Pause zwischen dem zweiten und dem dritten Akt deshalb so lang, weil in dieser Zeit einige Streichungen im Manuskript vorgenommen wurden, damit der Vorhang früher fallen konnte. Dass es auch die

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