Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
nicht gut: «Ich bin das Ganze gründlich leid und finde es schwer, bei Laune zu bleiben.» Und das, obwohl oder vielleicht auch weil er gerade zehn Tage Heimaturlaub hatte, den ersten seit Beginn des Krieges. Kaum zurückgekehrt, wurde er wieder in ein Krankenhaus eingeliefert, diesmal mit einer ernsthaften Halsentzündung und Fieber. An schweren Kämpfen hat er noch nicht teilgenommen; in einem Brief an einen Verwandten entschuldigt er sich fast dafür, dass er keine dramatischen Erlebnisse zu berichten hat. (Immerhin hat er Souvenirs nach Hause geschickt, vor allem Granatsplitter.) Er kämpft derzeit weniger mit der unheimlichen Realität des Krieges als mit der unheimlichen Langeweile. Sein Dienst besteht hauptsächlich aus Arbeiten hinter den Linien und aus nächtlichem Graben.
Es ist sein zwanzigster Monat in Uniform, und er hat die Hoffnung auf einen schnellen Frieden allmählich aufgegeben. Er erinnert sich, nicht ohne Bitterkeit, wie er vor fast genau einem Jahr geglaubt hat, der Krieg sei bald vorüber.
Er ist durchaus nicht als Einziger frustriert von diesem Krieg, der einfach immer nur weitergeht, zu einem immer höheren Preis. In allen Krieg führenden Ländern herrschen Inflation und Lebensmittelknappheit, doch neben Russland sind Deutschland und Österreich-Ungarn am härtesten getroffen. Nicht nur die Seeblockade der Alliierten hat sich als mörderisch effektiv erwiesen. 21 Die Versorgung hat auch am Fehlen von Transportmitteln gelitten und darunter, dass so viele Bauern und Landarbeiter einberufen wurden. Wer noch in der Landwirtschaft arbeitet, erliegt oft der Versuchung, seine Waren auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Dort sind die Preise nämlich bis zu zehnmal höher. (Unter anderem wurde errechnet, dass ungefähr die Hälfte von allen Eiern und allem Speck direkt auf dem Schwarzmarkt landen.) Nimmt man den raschen Anstieg der normalen Preise hinzu, bedeutet das für die meisten Familien eine große finanzielle Belastung, besonders in den Städten. Sämtliche Kurven zeigen inzwischen in die falsche Richtung: Krankheit, Unterernährung, Kindersterblichkeit, Unzufriedenheit, Jugendkriminalität, alles ist gestiegen.
Andresen hat andere Soldaten getroffen, die von ihrem Urlaub zurückgekehrt sind, und erstaunliche Geschichten gehört:
Einer erzählte, in Bremen habe es beinahe einen Aufruhr gegeben, dort hätten Scharen von Frauen die Schaufenster eingeschlagen und die Läden gestürmt. Mortensen aus Skibelund hat einen Mann aus Hamburg getroffen, der abgereist ist, obwohl er noch vier Tage [Urlaub] hatte, weil seine Frau nichts mehr zu essen für ihn hatte.
Ja, ein paar Unzufriedene haben spontan sogar ihren Zorn über Andresen ausgeschüttet. Einer hat ihn einen Hurrapatrioten genannt. Heute kam ein Soldat aus Hamburg, das sozialdemokratische Parteiorgan Vorwärts in der Hand, der von ihm wissen wollte, wie sich die Reichstagsabgeordneten aus Südschleswig eigentlich zur Kriegsfrage stellten. «Hier gibt es viele Menschen, die selbständig denken.» Auch die Männer an der Front bekommen die Versorgungsschwierigkeiten mittlerweile zu spüren. Ihr grobes Kommissbrot können sie nur noch selten mit Butter bestreichen; sie wurde ersetzt durch eine Art Marmelade, über die sich die Soldaten zuweilen lustig machen. (Der Soldatenspott hat auch reihenweise Namen für diese Marmelade hervorgebracht, wie «Hindenburg-Creme» oder «Kaiser-Wilhelm-Gedächtnisbutter».)
Die Front ist ruhig.
Ich habe in der Woche, seit ich wieder hier bin, kaum einen Kanonenschuss gehört. Alle Kräfte sammeln sich unten bei Verdun. Hier ist wieder die Rede davon, dass ein Fort gefallen ist, aber es gibt so viele Gerüchte. Wie geht es mit Rumänien? Ich habe den Eindruck, dass alles ruhig ist, aber das ist wohl die Ruhe vor dem Sturm.
91.
Donnerstag, 6. April 1916
Florence Farmborough kommentiert das Leben der Zivilbevölkerung in Czortkow
Sie befinden sich wieder auf feindlichem Territorium. Czortkow, wo sie nun schon seit einem Monat stehen, liegt im österreichischen Teil Galiziens. Die Stadt hat schwer gelitten, als im vorigen Jahr russische Verbände auf ihrem Rückzug viele Häuser in Brand setzten. Die Bevölkerung besteht zum großen Teil aus Juden. Florence schreibt in ihrem Tagebuch:
Das Leben der Hebräer, die in Czortkow leben, ist bemitleidenswert. Sie werden [von den Russen] mit rachsüchtiger Feindseligkeit behandelt. Als österreichische Bürger genossen sie fast vollständige
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