Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Freiheit und brauchten nicht unter der grausamen Unterdrückung zu leiden, der ein russischer Jude ausgesetzt ist. Aber mit ihren Rechten und ihrer Freiheit ist es unter dieser neuen Verwaltung vorbei, und ganz offensichtlich sorgt das für heftigen Unmut.
Wenn es schneit – und in diesem Winter hat es viel geschneit –, schickt jedes Haus einen Juden auf die Straße, um Schnee zu fegen, unter Aufsicht russischer Soldaten, die ihre Knuten ohne Zögern einsetzen. Gegenüber dem Haus, in dem Florence und die anderen Krankenschwestern einquartiert sind, steht eine Ruine. Dort hat früher einer der Rabbiner der Stadt gewohnt. Daneben eine Synagoge, die zerstört wurde.
An diesem Morgen bekommt Florence Besuch von einer jüdischen Näherin, die für sie ein graues Baumwollkleid gefertigt hat. Die Frau ist aufgebracht. Sie erzählt, gestern Abend hätten drei Kosaken an ihre Tür gehämmert und verlangt, dass sie bei ihr unterkommen. (Dazu haben alle Soldaten das Recht, und die meisten haben sich bei jüdischen Familien einquartiert, zwanzig bis dreißig Mann pro Haus. Es herrscht eine unbeschreibliche Enge.) Sie habe wahrheitsgemäß geantwortet, dass alle Räume bereits mit Soldaten überfüllt seien, aber die drei hätten sich trotzdem hineingedrängt und eine Art Hausdurchsuchung vorgenommen. Und bald hätten sie gefunden, wonach sie suchten: einen Revolver, den sie offenbar selbst dort platziert hatten. Die Näherin und ihr Mann hätten protestiert, erregt, aber vor allem zu Tode erschrocken; der Besitz von Waffen ist nämlich streng verboten, und Zuwiderhandlungen können mit dem Tode bestraft werden. Das Ganze war ein Trick, denn die Kosaken erklärten sich bereit, gegen zehn Rubel die Sache zu vergessen. Die Näherin und ihr Mann hatten keine Wahl:
Also wurden diese zehn Rubel zusammengekratzt und den Kosaken ausgehändigt, die beim Hinausgehen von der Neigung der jüdischen Rasse zum Verrat schwadronierten. Solche Ungerechtigkeiten sind in diesem Teil der Welt üblich; es scheint, dass das bloße Wort «Jude» für russische Soldaten ein Schimpfwort ist.
Ansonsten ist es in den letzten Monaten ruhig gewesen. Außer den ergebnislosen Attacken im Norden, am See Narocz bei Vilnius, hat man nichts von jenen russischen Offensiven gesehen, die alle erwartet haben. Und so etwas wie Enttäuschung hat sich breitgemacht, auch Florence deprimiert die ganze Warterei.
Da es an der Front zurzeit ruhig ist, gibt es nur wenige Verwundete zu versorgen. Stattdessen versuchen Florence und die anderen, der Zivilbevölkerung zu helfen. Es hat viele Fälle von Typhus und Pocken gegeben, deren Ausbreitung teils durch die extreme Überfüllung der Häuser, teils durch den Nahrungsmangel beschleunigt wurde. Die Geschäfte der Stadt sind mit Albernheiten wie Korsetts, hochhackigen Schuhen, Seidenbändern und Handschuhen aus Sämischleder gut eingedeckt. Aber Grundnahrungsmittel wie Butter, Hefe und Eier sind nur schwer zu bekommen, und wenn, dann zu unverschämten Preisen.
Im vorigen Jahr grassierte eine schwere Typhusepidemie, und die Kleinsten waren am schlimmsten betroffen. Zeitweilig starben zwischen zehn und zwanzig Kinder am Tag. Florence hat inzwischen viel erlebt. Aber, so schreibt sie in ihrem Tagebuch:
Manchmal scheint es mir, dass mich keine der schrecklichen Verwundungen, die ich während des Rückzugs im vorigen Jahr gesehen und versorgt habe, so tief berührt hat wie der Anblick dieser leidenden Kinder mit ihren matten kleinen Gesichtern und den schlaffen kleinen Körpern.
Einer, den sie an diesem Tag behandelt, ist der vierjährige Vasilij. Er kommt aus einer verarmten Bauernfamilie außerhalb der Stadt – der Vater wurde zu Beginn des Krieges zur österreichisch-ungarischen Armee eingezogen und ist jetzt verschwunden, die Mutter lebt davon, dass sie für russische Soldaten wäscht. Der Junge ist im vorigen Jahr an Pocken erkrankt, und infolge von Krankheit und Hunger hat er aufgehört zu wachsen. Wenn sie ihn hochhebt, fühlen sich seine Arme und Beine wie dünne Stöckchen an.
Auch eine junge Ukrainerin sucht an diesem Tag ihre Hilfe. Sie sagt, sie sei achtzehn, sieht aber jünger aus. Gestern kam sie, mürrisch und ängstlich, um sich wegen ihrer Hautprobleme behandeln zu lassen. Sie hatten ihr zuerst das dreckige, struppige Haar geschnitten. Dann gaben sie ihr grüne Seife, damit sie sich wäscht. «Ihr geschundener Körper zeugte von einer unseligen Geschichte, von Prostitution.» Das
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