Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt
Stichwort »Regalplatzoptimierung« bekannt. Und hier kommt nun die Evolution im Supermarkt so richtig zum Tragen.
Aus der Sicht eines Produktes, das vervielfältigt werden »will«, ist das Regal im Supermarkt so etwas wie der »Platz an der Sonne« für eine Pflanze. Je mehr Fläche es erobern kann, desto besser, denn umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Kunden das Produkt kaufen. Hier spielen mehrere Faktoren eine Rolle: Ein Produkt, das mehr Regalplatz belegt, ist leichter zu erkennen. Es suggeriert dem Verbraucher, das Produkt sei begehrt, und erhöht dadurch seine Attraktivität. Es verdrängt Konkurrenzprodukte, für die der Kunde stattdessen sein Geld ausgeben könnte. Es verringert die Wahrscheinlichkeit, dass das Produkt ausverkauft ist.
Außerdem ist mehr Platz da für Produktvarianten, beispielsweise unterschiedliche Schokoladensorten. Diese sind zwar in gewisser Hinsicht untereinander ebenfalls Konkurrenten, doch da sie vom selben Hersteller stammen, könnte man sie als »Verwandte« ansehen. Ähnlich wie Gene das Überleben nicht nur des eigenen Individuums, sondern auch das naher Verwandter begünstigen, da dort mit hoher Wahrscheinlichkeit dasselbe Gen vorhanden ist, wirkt im Supermarkt die Verwandtschaft der Produkte untereinander positiv.
Moment mal. Bisher war von zwei Replikatoren die Rede: Genen und Memen. Jetzt »wollen« auf einmal Produkte vervielfältigt werden. Sind also Produkte noch eine neue Gruppe von Replikatoren?
Nein. Die Sache ist etwas komplizierter. Was hier tatsächlich der Evolution unterliegt, sind Meme - in gewisser Hinsicht die »Bauanleitungen« für die Produkte. Ähnlich wie Gene Veränderungen in einem Körper (sogenannte phänotypische Ausprägungen) bewirken, die zu ihrem eigenen Kopiertwerden beitragen, verändern Meme wirtschaftliche Abläufe so, dass sie vervielfältigt werden.
Nehmen wir als Beispiel eine Konfiserie. Hier werden verschiedene Pralinensorten hergestellt, die alle auf unterschiedlichen Rezepten basieren. Diese Rezepte mutieren gelegentlich, sei es, weil sich ein Konfiseur nicht exakt an die Rezeptur hält, weil er bewusst damit herumexperimentiert oder auch etwas ganz Neues kreiert. So entstehen neue Pralinensorten. Manche schmecken den Kunden besser, manche weniger gut. Die erfolgreichen Sorten werden öfter gekauft und deshalb auch häufiger hergestellt. Die Rezept-Meme der erfolgreichen Pralinensorten »überleben«, indem sie es immer wieder schaffen, die Menschen in der Konfiserie dazu zu bringen, die Rezeptanweisungen zu wiederholen. Sie können sich auch auf andere Konfiserien ausbreiten.
Etwas ganz Ähnliches passiert in einer Schokoladenfabrik. Auch dort werden Rezepte variiert. Erfolgreiche Rezepte »überleben« und werden immer wieder angewendet. Weniger erfolgreiche verschwinden wieder vom Markt. So konnte man vor einigen Jahren in der Schokoladenindustrie einen neuen Trend hin zu hochwertigen und ausgefallenen Sorten beobachten. Bis dahin hatten Eigenschaften wie »Cremigkeit« und ein hoher Zuckergehalt eine wichtige Rolle für den Verkaufserfolg gespielt. Nun war auf einmal ein hoher Kakaoanteil gefragt. Es gab sogar merkwürdige Varianten, zum Beispiel Schokoladensorten mit einem so hohen Kakaoanteil, dass sie einfach nur noch grässlich schmeckten, oder Schokolade mit Pfeffer- und Chiligeschmack. Viele dieser Varianten sind wieder verschwunden oder fristen in Spezialgeschäften ein Nischendasein, aber insgesamt haben sich Sorten mit einem höheren Kakaogehalt und weniger Zucker im Handel etabliert.
Ein Schokoladenrezept kann sich nur behaupten, wenn die Schokolade auch gekauft wird. Und dafür ist es entscheidend, wie viel Regalplatz die Schokolade erobern kann. Andersherum hängt der zur Verfügung stehende Regalplatz davon ab, wie gut sich die Schokolade verkauft. Denn »Regalplatzoptimierung« bedeutet, dass ein Händler versucht, mit jedem Quadratzentimeter seines Regals einen möglichst großen Ertrag zu erzielen. Wenn sich ein Produkt nicht gut genug abverkauft, wird der ihm zur Verfügung stehende Platz reduziert, bis es schließlich ganz aus dem Regal verschwindet. Wie wir weiter vorn gesehen haben, ist das manchmal ein sich selbst verstärkender Prozess, denn je weniger Regalplatz ein Produkt hat, desto unwahrscheinlicher ist es, dass es verkauft wird. Trotzdem können sich in einem großen Supermarkt mehr als zehntausend verschiedene Produkte ihren »Platz an der Sonne« sichern.
Man könnte meinen, dass nun
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