Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt
in wenigen Stunden ein Modell davon erstellen, in dem ich virtuell »herumlaufen« konnte. So bekamen wir ein Gefühl für die Proportionen und konnten die Einrichtung planen, lange bevor auch nur der erste Spatenstich getan war.
Um die Strömungseigenschaften und damit den Windwiderstand und Benzinverbrauch eines Autos zu untersuchen, musste man früher maßstabsgetreue Modelle bauen und in einem Windkanal ziemlich aufwendig testen. Jede noch so kleine Änderung an der Karosserieform führte dazu, dass ein neues Modell gebaut werden musste. Das dauerte Tage oder sogar Wochen. Heute werden die Strömungseigenschaften neuer Autos im Computer simuliert. Die Veränderung der Karosserie erfolgt per Mausklick, die neuen Strömungseigenschaften werden innerhalb von Sekundenbruchteilen berechnet. Ein Karosseriedesigner kann heute an einem Tag mehrere Dutzend Veränderungsschritte vornehmen und ihre Auswirkungen simulieren, also viele »Generationen« von Karosserien entwickeln. Das hätte früher Monate gedauert. Quasi als Nebeneffekt liefert der Computer dabei nicht nur eine verbesserte Form, sondern gleich auch die Konstruktionsdaten für die benötigten Bleche.
Der Effekt dieses technischen Fortschritts ist nicht nur ein niedrigerer Benzinverbrauch, sondern vor allem eine Beschleunigung der Mutation und Selektion neuer Automobilgenerationen. Die memetische Evolution nimmt quasi eine Abkürzung: Sie umgeht die mühsame und zeitraubende Selektion der Meme durch den Test in der Realität. Die Evolution selbst wird virtualisiert.
Es gibt inzwischen kaum noch einen Bereich der Wissenschaft und Technik, der ohne Computersimulationen auskommt: von der Kosmologie, die beispielsweise versucht, die Entstehung von Sternen und Galaxien durch Computermodelle besser zu verstehen, über Städteplanung und Architektur, den Entwurf von Industrieanlagen, das Design von Gebrauchsgegenständen und die Entwicklung von Computerchips bis zu Molekularbiologie und Quantenphysik. Und dieser Trend zur Virtualisierung der Wissenschaft wird sich fortsetzen, denn es ist viel schneller, einfacher und billiger, Experimente zu simulieren, als sie in der Realität durchzuführen. Vieles ist auch im praktischen Experiment gar nicht möglich, etwa das Erforschen der Frage, wie ein Stern entsteht oder was bei der Kollision zweier Galaxien geschieht.
Natürlich kommen wir nicht ohne die Beobachtung der Natur aus, wenn wir mehr über den Kosmos und die Welt um uns herum wissen wollen. Aber in Zukunft werden wir immer häufiger Beobachtungen in der Realität mit Experimenten im virtuellen Raum vermischen. Wir werden feststellen, dass es in diesen theoretischen, simulierten Welten unglaublich viel zu entdecken gibt.
Ein Beispiel dafür ist die Chaosforschung, die unser Verständnis komplexer Prozesse in der Realität - von der Natur bis zu den Wirtschaftswissenschaften - enorm erweitert hat. Sie hat ihren Ursprung in einem Simulationsexperiment. 1963 beschäftigte sich der Meteorologe Edward Lorenz mit der Simulation des Verhaltens von Gasen bei ihrer Erhitzung. Um Rechenzeit zu sparen, rechnete er nicht die gesamte Simulation jeweils neu durch, sondern verwendete Zwischenergebnisse aus einem vorherigen Simulationslauf. Obwohl der Computer mit 6 Stellen Genauigkeit rechnete, gab Lorenz bei einigen Simulationsläufen nur die ersten 3 Stellen der Zwischenergebnisse ein. Er stellte verblüfft fest, dass sich die Ergebnisse der Simulation dramatisch voneinander unterschieden, obwohl die Startwerte nur minimal abwichen (zum Beispiel 0,506 statt 0,506127). Daraus formulierte er die berühmte Analogie des Schmetterlingsflügel-Effekts, dem wir bereits in Kapitel 1 begegnet sind.
Interessant daran ist, dass Lorenz in seiner Simulation einen Effekt entdeckt hatte, der sich nur innerhalb der Simulation auswirkte. Dennoch konnte er aus dieser Beobachtung eine wichtige Schlussfolgerung für die Realität ziehen, die zur Entwicklung eines ganzen Wissenschaftszweigs geführt hat. Man kann vermuten, dass in virtuellen Welten noch eine Menge solcher verborgenen Zusammenhänge zu entdecken sind, die auch in der realen Welt wirken. Die Erforschung von Simulationen funktioniert also quasi in zwei Richtungen: Man kann reales Geschehen in die simulierte Welt projizieren und daraus Folgerungen ableiten, oder man entdeckt Zusammenhänge direkt in virtuellen Welten und überträgt diese auf die Realität. Beispielsweise lassen sich aus Simulationsmodellen über das Verhalten von
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