Schokoherz
verdankte. Ich bezweifelte allerdings, dass sie selbst mir auf diese Frage eine befriedigende Antwort geben würde. Die Wahrscheinlichkeit, von einem Politiker eine ehrliche Antwort zu bekommen, war in etwa so hoch wie eine großangelegte türkische Initiative zur Einführung von Weihnachten. Ich würde mir dazu selbst eine Meinung bilden müssen und damit auch die Meinung meiner Leser beeinflussen.
Ich kann nicht behaupten, dass Olli und Madeleine begeistert davon waren, dass ich bei den spannendsten Stellen von Thomas der kleinen Lokomotive laut mit meinen Papieren raschelte. Andererseits waren sie daran gewöhnt, dass ihre Eltern am Wochenende Arbeit mit nach Hause brachten und dass Menschen herumsaßen, um zu lesen (wichtig, den Erziehungsratgebern zufolge). Sie wussten, dass Worte etwas Bedeutendes waren, weswegen Mummy und Daddy fast genauso viel Aufhebens darum machten wie um gewaschene Gesichter, geputzte Zähne, gebürstete Haare, grünes Gemüse und all den anderen Unsinn.
Doch obwohl ich mich zur Expertin für Jane Champion mauserte – geboren 1960, Studium in Oxford, früher Sozialarbeiterin, blabla –, verfolgte ich mit dem größeren Teil meines Hirns das Gespräch zwischen Olli und Madeleine. Es war so schön, mehr Zeit mit ihnen zu verbringen und sie wieder richtig kennenzulernen. Auch wenn beide noch so winzig waren und nur eine vageVorstellung von der Aussprache von Konsonanten hatten – Maddie machte sich vor allem mittels Vokalen bemerkbar – liebte ich es, ihnen zuzuhören. Es gab Dinge, über die sie definitiv einer Meinung waren: Thomas war eindeutig ihr Lieblingszug. Dann gab es Sachen, bei denen sich ihre Geschmäcker teilten: Zum Beispiel mochte Olli lieber Karotten als Brokkoli, während Maddie Sahnemais bevorzugte. Und dann gab es noch Gebiete, auf denen sie zu Kompromissen bereit waren: Sie konnten gleichzeitig ihre Köpfe gegen meinen Bauch lehnen, ohne dauernd streiten zu müssen, wer die größere Hälfte bekam.
Irgendwie nahm ich es meinem Job übel, dass er mich für meine Kinder zu einer Fremden machte. Es dauerte immer fast das ganze Wochenende, bis ich wie in diesem Moment auf dem Sofa das Gefühl hatte, sie inund auswendig zu kennen. Und sobald sie mir wieder ganz gehörten, musste ich sie schon wieder hergeben. Das Schlimmste daran war, zu wissen, dass sie auch darunter litten. Wenigstens hatten sie sich gegenseitig. Als ich damals Oliver immer allein bei Lorna zurücklassen musste, hatte ich mich noch schlechter gefühlt.
Deshalb hatte es immer etwas Bittersüßes, wenn wir uns auf dem Sofa zusammenkuschelten wie gestrandete Wale. Ich hatte den Eindruck, dass sie besonders brav sein wollten, was mich traurig machte. Kein Kind sollte sich für seine Eltern verstellen müssen. Aber meine taten es, und das schmerzte mich tief. Sie waren so lieb, bezaubernd und anhänglich, dass ich sie am Abend nur ungern ins Bett brachte. Ich tat es natürlich trotzdem und legte, während sie schliefen, ihre kleinen Kleider für den nächsten Tag bereit. Jedes einzelne winzige Teil hielt ich miran die Nase, um ihren Duft einzusaugen. Eigentlich war es ja nur der Geruch von Lenor, mit Lavendelnote, falls es jemanden interessiert, aber in meiner Vorstellung war er zu ihrem Duft geworden.
Ich will jetzt nicht den Eindruck erwecken, so gefühlsduselig zu sein, dass mir ständig Tränen der Rührung in die Augen schießen. Das stimmt natürlich nicht. Ein Teil von mir, ein großer Teil (alle meine Teile sind groß – na ja, ziemlich groß – ach was, sie sind richtig groß; wenn ich es hier nicht reinschreiben kann, was für einen Sinn hat dann so ein Tagebuch), sagen wir mindestens die Hälfte von mir war wegen des Termins am nächsten Tag aufgeregt. Dieses Interview mit Jane Champion würde meine erste echte Herausforderung nach Maddies Geburt sein, und wenn es etwas gab, was mir wirklich Spaß machte, dann waren es Interviews. Berühmte Leute zu treffen und dafür auch noch Geld zu bekommen war doch ein Hauptgewinn! Ich verstand gar nicht, warum das nicht jeder gern machte. Andererseits wusste ich natürlich, dass es nicht jeder konnte. Man musste wortgewandt, witzig und äußerst selbstbewusst sein und sich außerdem fast wie besessen für andere Menschen interessieren. Eine eigenartige Kombination. Und in mancherlei Hinsicht entsprach ich selbst wahrscheinlich auch nicht diesem Anforderungsprofil. Zum einen rede ich zu viel. Ein Interviewer muss vor allem ein guter Zuhörer sein. Und
Weitere Kostenlose Bücher