Schokoherz
ich bin, nachsichtig ausgedrückt, eine Plaudertasche. Aber in Interviews kommt immer eine seltsame Ruhe über mich, die es mir ermöglicht, anderen Leuten zuzuhören, ohne dass ich ihre Sätze tiir sie beende oder ihre Anekdoten mit lustigeren zu übertrumpfen versuche.Eigentlich habe ich die Macht des Schweigens zufällig kennengelernt. Vor Urzeiten hatte ich bei einem schwierigen Interview aus Unachtsamkeit allzu lange geschwiegen. Ehrlich gesagt war ich verzweifelt damit beschäftigt gewesen, mir eine schlaue Frage für diesen verkopften Autor auszudenken, der mich und meine Leser vor Langweile ins Koma zu versetzen drohte. Mir wollte absolut nichts Spritziges einfallen. Doch mein überlanges Schweigen hatte auf meinen Gesprächspartner eine außerordentliche Wirkung: Indem ich einfach nur dasaß und nichts sagte, wirkte das, als würde ich alles, was er erzählte, in Frage stellen – ihn unausgesprochen der Lüge bezichtigen. Und so begann er, sich zu rechtfertigen, auszupacken und reinen Tisch zu machen. Ehe ich mich versah, hatte mir die Unfähigkeit, mir eine neue Frage auszudenken, die größte Sensation meiner damaligen Karriere eingebracht. Der Gewinner des Booker-Preises gab zu, aus einem älteren Werk abgeschrieben und zudem die Tochter eines Rivalen verführt zu haben. Ganz davon abgesehen, dass er im Abi in der Matheprüfung geschummelt hatte. Schweigen konnte tatsächlich Gold wert sein.
Auch morgen würde ich es auf jeden Fall mit meiner Schweigetaktik versuchen, obwohl die bei Politikern oft nicht funktionierte. Denn die füllten jede Pause mit sinnlosen Phrasen, die sie für ihre »Kernbotschaft« hielten. Na gut, ich würde ja sehen. In der Zwischenzeit zurück zu meinen Artikeln! Ich blätterte sie durch und stieß auf etwas Nostalgisches – Janes Hochzeitsfoto. Hoch auftoupiertes, aus der Stirn gekämmtes Haar. Dafür hatte sie mindestens hundert beheizte Lockenwickler und eine Flasche Elnett gebraucht. Die Frisur war so schrecklichund altmodisch, dass sie schon fast wieder in war. Ihr frischgebackener Ehemann, inzwischen Schulleiter, wirkte total verschüchtert. Ich sah mir das Datum an: Mai 1980. Sie war sehr jung gewesen. Der nächste Zeitungsausschnitt war von 1988. Das Bild zeigte sie mit ihren drei Kindern, den Ältesten trug sie auf dem Rücken. Er war ein großer Junge und sah mindestens wie zehn aus. Nein, das konnte nicht sein. Ich überflog den Artikel. Er war acht. Auf dem Bild feierten sie gerade seinen achten Geburtstag und ihren Sieg bei den. Gemeinderatswahlen im Oktober. Moment. Irgendetwas stimmte hier nicht. Jane hatte im Mai 1980 geheiratet, Edward war im Oktober desselben Jahres geboren. Ich spürte ein Kribbeln entlang der Wirbelsäule, wie damals, als der Booker-Preisträger gestanden hatte, dass er seinen Taschenrechner in die Matheprüfung geschmuggelt hatte. Jane Champion, unsere neue Innenministerin und gleichzeitig die Frau, die vor kurzem minderjährige Mütter als verantwortungslos gebrandmarkt hatte, war bei ihrer Hochzeit bereits schwanger gewesen! Ich konnte gar nicht glauben, dass das noch niemandem aufgefallen war. Aber Champion war ja wie aus dem Nichts aufgetaucht, und das mit doppelter Geschwindigkeit. Vielleicht war ich sogar die erste Journalistin, die all diese Artikel durchkämmte.
Immerhin hatte sie das Baby nicht schon vor der Hochzeit bekommen, und sie war mit dem Mann zusammengeblieben und hatte noch zwei Kinder bekommen. Wir sprachen also nicht von einem Lasterleben, aber vielleicht konnte ich sie damit aus der Reserve locken. Diese Regierung legte so viel Wert auf Familien, und auch Jane Champion selbst war als Konservative bekannt.Das Thema lieferte mir jedenfalls den entscheidenden Aufhänger: So würde es kein langweiliges Gewäsch über die Einwanderungspolitik werden, sondern ein Reißer für die Titelseite. Ich weiß, dass Sie mich nicht dafür verurteilen werden, dass mir die Aussicht, Jane Champion aus der Fassung zu bringen, ein solches Vergnügen bereitete. Ich musste lächeln. Doch dann wurde aus meinem Lächeln eine schmerzverzerrte Grimasse, als ein verschwitzter Junge direkt auf meinen Artikeln und meinem Schoß landete. Maddie und Olli hatten genug – von Thomas und von Mummys Arbeit.
»Welche Zeit ist es jetzt, Mummy?«, rief Oliver, der nur eine sehr vage Vorstellung von Uhrzeiten hatte.
»Zeit zum Kitzeln!«, verkündete ich. Meine Stimme ging völlig unter in dem Gekreisch aus gespielter Angst und echtem
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