Schokoherz
den ich nicht kannte: ihr Gesicht von Falten grausam gezeichnet und ihr einnehmendes Lächeln spurlos verschwunden. Jane Champion war tatsächlich ein sehr hartes, fades altes Gebäck. Sie fauchte mich an.
»Wie können Sie es wagen! Ich bin ja wohl kaum mit einem dieser miesen kleinen Flittchen aus der Gosse zu vergleichen, die schwanger werden, um eine Sozialwohnung zu ergattern.«
Es war deutlich zu hören, wie jemand nach Luft schnappte. Vielleicht war es ja ich, vielleicht das Zöpfchen-Mädchen, vielleicht einer der Assistenten. Ich war mir nicht sicher. Jedenfalls kapierten diese jetzt schnell, dass sie die Ministerin zum Schweigen bringen mussten – und zwar ein bisschen plötzlich. Der Mann simulierte hastig einen Hustenanfall, während die Assistentin Jane Champion am Arm packte und auf sie einflüsterte. Das reichte, um sie auf die professionelle Politikerschiene zurückzubringen. Sie räusperte sich, bemühte sich um ein freundliches Lächeln und setzte noch einmal an. »Verzeihen Sie, ich war damals vielleicht tatsächlich etwas voreilig ... zugegebenermaßen also ... äh ... wie ich schon sagte, habe ich das Ehegelübde vielleicht etwas vorweggenommen«, sie stockte wieder. Aber gerade als die Lakaien einspringen wollten, schien sie sich zusammenzureißen, und ich sah, wie sie sich in jahrelang erprobtes,routiniertes Lügen flüchtete, verfeinert bei Millionen von langweiligen Abendessen, die Parlamentarier während ihrer Hinterbänklerzeit durchstehen müssen. Hochmütig lächelte sie mich an. »Mal ehrlich, wer wartet heutzutage denn tatsächlich noch bis zur Eheschließung? Erwarten Sie wirklich, dass Politiker Heilige sind? Wer könnte denn noch Politik machen, wenn wir so dächten? Vergessen Sie das nicht, wenn Sie Ihren schmuddeligen kleinen Artikel schreiben. Und nur der Vollständigkeit halber: Mein Sohn ist genauso geliebt und gewollt wie meine beiden anderen Kinder. Auf Wiedersehen.«
Damit rauschte Jane Champion aus dem Zimmer, gefolgt von ihren Speichelleckern, dem Zöpfchen-Mädchen und der Teekellnerin. Nur die klingelnde Pressefrau wandte sich noch einmal um und grinste mir zu, ehe die Tür ins Schloss fiel. In dem plötzlich stillen Raum schnappte ich mir mein Aufnahmegerät und stopfte es in die Tasche. Alleine und wie betäubt suchte ich mir den Weg zu den Aufzügen. Die Gänge, in denen zuvor so reger Betrieb geherrscht hatte, waren jetzt wie ausgestorben. Wahrscheinlich hätte ich eine ganze Reihe von Staatsgeheimnissen aufdecken können, aber dazu war ich jetzt nicht mehr in der Lage. Einerseits war ich aufgeregt und andererseits beschämt. Wahrscheinlich hätte ich mich ähnlich gefühlt, wenn ich in einer vollen Kirche »Schlüpfer!« gebrüllt hätte.
Das waren wirklich seltsame Minuten gewesen dort im Konferenzzimmer. Bis zum heutigen Tag war ich davon ausgegangen, dass Jane Champion im Grunde eine anständige, fleißige Frau war, die verheiratet drei Kinder großgezogenund eine außergewöhnlich erfolgreiche Karriere hingelegt hatte. Jetzt würde ich sie als Heuchlerin bloßstellen, die was eigentlich noch schlimmer war – für einen Großteil der Bevölkerung nur tiefe Verachtung übrig hatte. Ich verließ das Innenministerium einigermaßen erschüttert. Es war meine große Stunde – all das Rechnen und Zählen hatte sich ausgezahlt. Und trotzdem war mir so gar nicht nach Feiern zumute. Da begriff ich auch, warum. Durch den Blick in Champions abstoßendes, hasserfülltes Inneres fühlte ich mich selbst irgendwie beschmutzt. Ich bezweifelte, dass der Begriff »mieses Flittchen« in diesem Raum bisher jemals gefallen war oder noch einmal fallen würde. Immerhin hatte ich die Story des Jahrhunderts.
Als ich auf dem Bürgersteig stand und mich mit wachsender Dringlichkeit rechts und links nach dem nächsten Süßigkeitenkiosk umsah, nahm ich undeutlich wahr, wie jemand meinen Namen rief. Ich suchte die Straße ab. Dort erkannte ich niemanden. Aber direkt vor meiner Nase wartete ein Taxi und – verdammt – die vermaledeite Gemma Crampton saß darin und quäkte aus dem Fenster. Sie musste die ganze Zeit auf der Lauer gelegen haben. »Wie typisch!«, dachte ich, atmete tief durch und ergab mich ins Unvermeidliche. Ich konnte mir nicht leisten, Gemma zu ihrer Mutter rennen und petzen zu lassen, dass ich sie nicht beachtet hätte. Doch am liebsten wäre ich einfach in dem Strom von Fußgängern verschwunden und hätte vergessen, dass ich ihr irres kleines Gesicht jemals
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