Schokoherz
braucht einen Pass, nehme ich an?« Meine Mutter klang immer noch etwas verschnupft, aber es wurde besser. Immerhin brauchte sie tatsächlich manchmalzwei Stunden, um sich bis in den Londoner Süden durchzukämpfen.
»Und mit dem Flugzeug dauert es nur eine Stunde oder so«, behauptete ich. Gleichzeitig machte ich mir im Geiste eine Notiz, dass ich meinen Eltern trotz unserer angespannten finanziellen Lage so bald wie möglich Tickets kaufen musste. »Es ist wirklich ganz einfach«, fügte ich hinzu. So einfach, dass ich es mir bis zu diesem Moment selbst noch nicht klargemacht hatte.
»Weißt du, Mum, Brüssel ist wirklich eine interessante Stadt. Stapelweise, äh, Denkmäler. Ihr könnt immer kommen und bei uns wohnen. Wir zeigen euch alles«, versprach ich, was für jemanden, der selbst keine Ahnung von der Stadt hatte, ganz schön anmaßend war. »Und was auch toll ist: Die Kinder werden fließend Französisch sprechen.« Auch das war ganz schön hoch, gegriffen, wenn man bedachte, dass diese beiden Kinder bis jetzt kaum ein Wort in ihrer Muttersprache äußerten. Aber ich versuchte verzweifelt, Mum das Ganze schmackhaft zu machen. »Es tut mir so leid, dass ich dich nicht gleich angerufen habe. Ich habe so ein schlechtes Gewissen deswegen. Hoffentlich war der Schock nicht allzu schlimm für dich. Hast du es in den Nachrichten gehört?«
»Nein, Jim, der Freund deines Vaters, hat eine Ausgabe des Standard mitgenommen, die ein Pendler liegengelassen hat«, erklärte sie. Irgendwie war ich beeindruckt, dass der Standard schneller gewesen war als das Fernsehen. Gestern noch hätte ich das als kleinen Sieg für die Printmedien gewertet. Gleichzeitig wäre ich empört gewesen bei der Vorstellung, dass knickrige Rentner aus Hampshire die Bahnhöfe nach liegengelassenen Zeitungendurchsuchten, anstatt sich selbst welche zu kaufen und damit unsere Auflagenzahlen hochzutreiben. Jetzt war es mir so was von egal. Eigentlich freute ich mich, dass der Standard wenigstens um einen Käufer betrogen worden war. »Es stand gar nicht auf der Titelseite. Nur eine kleine Notiz irgendwo im Mittelteil.« Mum klang gekränkt.
»Das ist gut. Dann kann ich bald wieder vor die Tür gehen«, rief ich froh und dankte im Stillen dem schnurlosen Telefon, während ich ins Wohnzimmer ging und die Vorhänge einen Zentimeter anhob. Tatsächlich hatte sich die wartende Menge auf zwei bis drei Reporter dezimiert, die noch durchgefrorener und gelangweilter aussahen als zuvor. Gott sei Dank. Irgendetwas anderes musste passiert sein. Man hatte sie auf eine neue Fährte geschickt. Ausgezeichnet. Ich musste nur noch ein paar Stunden warten, dann würde ich wieder zum Einkaufen gehen und endlich einen Reiseführer – und Schokolade – besorgen können.
Gerade rechtzeitig warf ich einen Blick in die Küche und konnte eine glückliche Maddie aus der Teigschüssel befreien, das Schlimmste von ihr abkratzen, sie in ihre Babywippe setzen und Ollis Hände abwischen, der die Fliesen mit Teig neu verfugte.
»Also, ich weiß zwar nicht, wie du das meinst, aber es ist auf jeden Fall eine gute Nachricht, dass ihr nicht auf die Bermudas zieht. Vater soll Brüssel gleich mal in seinem Reiseplan nachschlagen. Ich wünsche euch auf jeden Fall alles Gute, und umarme bitte die Kinder ganz fest von mir. Ich muss jetzt los, Maureen organisiert einen Flohmarkt, und du weißt ja, da gerät sie immer in helle Aufregung.«
Ichhatte nicht den Mut, ihr zu sagen, dass Brüssel in Dads Hampshire-Reiseplänen höchstwahrscheinlich nicht zu finden sein würde. Und ich war einfach nur froh, dass ich heil aus diesem Gespräch herausgekommen war. Ich schwor mir, dass ich ihr so etwas nie wieder antun würde.
Der nächste Anruf kam tatsächlich von Tom. Ja, der Auslandschef freue sich, dass wir nach Brüssel wollten, auch wenn er etwas überrascht war, wie schnell sich Toms verhaltenes Zögern in plötzliche Begeisterung verwandelt hatte. Sie hatten festgelegt, wann er anfangen sollte, sich auf ein üppiges Gehalt geeinigt und – was offensichtlich am schwierigsten war – eine neue Stellenbezeichnung formuliert. Stellenbezeichnungen waren im Journalismus ganz besonders wichtig, und es gab ewige Streitereien, was denn nun genau der Unterschied zwischen einem »European Executive Editor«, einem »Executive Editor (Europe)« und einem »Executive (Europe) Editor« war. Klammern waren von entscheidender Bedeutung. Zum Glück war Tom in solchen Sachen kein Pedant und hatte sich
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