Schottlands Wächter (German Edition)
Der Boden unter ihren Füßen schwankte und sie landete auf allen Vieren im Dreck. Das muss ein großer Ast gewesen sein . Bryanna sah sich um. Nirgends waren Anzeichen für einen herabgefallenen Ast zu sehen. Keine einzige Baumkrone war beschädigt, nur der Regen hatte aufgehört. Die Sonne brach durch die Wolken und es wurde wärmer, als Bryanna erwartet hätte. Sie wischte sich die Tropfen aus den Augen, zog die nasse Jacke aus und ging weiter.
Wenig später sah sie über sich eine Felsnase, die die Bäume überragte. Von dort kann ich wahrscheinlich das ganze Tal sehen. Hoffentlich entdecke ich Morag. Ich habe keine Lust mehr, ihr noch lange hinterherzulaufen. Bryanna beschloss hinaufzuklettern. Sie war erfreut, als sie merkte, dass der Weg direkt zu der Felsnase führte. Schnaufend quälte sie sich die letzten steilen Meter hinauf. In den Felsspalten streckten die ersten Farne ihre aufgerollten Blätter aus und die ersten Blumen reckten ihre Blüten der Sonne entgegen. Wie seltsam. Hier oben scheint der Frühling viel weiter fortgeschritten zu sein, als bei uns in der Stadt. Dabei ist es doch sonst eher anders herum.
Auf der Felsnase angekommen setzte sie sich in eine Mulde, die wie für sie geschaffen schien und sah ins Tal hinunter. Wie erwartet war sie ziemlich hoch gestiegen. Die Aussicht war atemberaubend. Bryannas Unterkiefer klappte herunter. Hellgrün schimmerten die Buchen an den Hängen des Flusses Taye. Moment mal. Eben war der Buchenwald doch noch kahl . Bryannas Herz klopfte heftig. Irgendetwas war passiert, was sie sich nicht erklären konnte. Es ist ein wenig so, wie vorhin in der Eisenbahn. Ob Morag das getan hat? Hat sie mich vielleicht hypnotisiert? Bryanna krabbelte so weit nach vorn, wie sie sich traute. Der Fels fiel steil nach unten ab und verlor sich in den Wipfeln der Buchen. Häuser konnte sie nicht erkennen. Die können doch nicht alle von Bäumen verdeckt sein! Sie beschloss, den Berg noch ein Stück weiter hinaufzusteigen. Vielleicht kann ich von dort besser sehen . Sie stand auf und ging weiter.
Wenig später sah sie den Steinhügel, der den Gipfel markierte. Ein Mädchen in einer feuerroten Windjacke hockte auf den Steinen, als warte es auf jemanden. Als es Bryanna sah, rannte es ihr entgegen. Es war das Mädchen, das ihr auf dem Waverley Bahnhof geholfen hatte. „Ich wusste, dass du es schaffst!”
Bryanna sah sie an, als wäre sie ein Elefant auf Rollschuhen. „Was machst du denn hier?”
„Willkommen in Alba”, sagte Kaylee und schüttelte Bryannas Hand. „Ich habe schon am Bahnhof gewusst, dass du es bist. Du wirst sehen, wir werden die besten Freunde.”
In Bryanna Hirn purzelten Fragen und Gedanken durcheinander. Sie fragte das Erstbeste, was ihr in den Sinn kam. „Alba? Das ist doch ein alter Name für Schottland.”
Kaylee lachte. „Willst du mich auf den Arm nehmen? Dein Vater hat dir doch sicherlich alles über Alba erzählt.”
Bryanna knabberte an ihrer Unterlippe. Nichts von all dem machte Sinn. Was hatte ihr Vater damit zu tun? War er vielleicht gekidnappt worden, weil er ein wertvolles, wissenschaftliches Gerät entdeckt hatte? „Bin ich vielleicht in der Zeit zurückgereist?”
Kaylee starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. „Du hast wirklich keine Ahnung, was?” Sie zeigte auf den Steinhaufen, der den Berggipfel markierte. „Komm, setzen wir uns, und ich erkläre es dir.”
Bryanna setzte sich gehorsam hin, als sie etwas Rotes durch die Büsche huschen sah. Sie zupfte Kaylee am Ärmel, die sich grade nachdenklich die Nase rieb.
„Kaylee … da hat sich was bewegt.” Bryanna zeigte über die Wiese, die sich hinter der Bergkuppe ausbreitete und mit sanftem Schwung in einen Buchenwald überging. Kaylee sah in dem Moment auf, als fünf Gestalten zwischen den Bäumen hervor traten. Trotz der großen Entfernung sah Bryanna ihre knotigen Gesichter. Sie waren noch hässlicher als die Goblins im Bahnhof.
Kaylee wurde blass. „Redcaps!”
Redcaps — der Name rief bei Bryanna Erinnerungen an ihren unsichtbaren Freund hervor. Hob hatte ihr oft von den mordlustigen Ungeheuern erzählt, die ihre Kappen im Blut ihrer Opfer wälzten. Stets hatte sie mit wohligem Schauer gelauscht, doch gefürchtet hatte sie sich nie. Aber die menschenähnlichen Gestalten, die witternd am Waldrand standen und Hellebarden in ihren überlangen Armen schaukelten, ließen ihr das Blut in den Adern gefrieren.
Kaylee packte sie am Arm, zog sie auf den Boden und robbte
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