Schottlands Wächter (German Edition)
riss die Augen weit auf. „Diese Räuber und Mörder haben hier gesiedelt? Warum habt ihr sie nicht fortgejagt?”
Bryanna zuckte die Schultern. „Das war lange, lange bevor ich geboren wurde; sogar lange bevor Vater Wächter wurde.”
„Oh!”, sagte Kaylee. „In Alba tauchen sie noch heute gelegentlich auf. Vor zwei Jahren erst vertrieben Rory Mackay und seine Männer eine Flotte Nordmänner. Sein Lied wird an vielen Feuern gesungen.”
Bryanna flog über eine große Seehundkolonie, aber die Tiere folhen als sie sie bemerkten. „Bei uns läuft das alles etwas anders. Wenn du dich für Politik interessierst, solltest du mal Fernsehen gucken.”
„Politik? Fernsehen?”
Bryanna spürte Kaylees Neugier. Bereitwillig erklärte sie die Begriffe, so gut sie konnte. Doch es fiel ihr schwer, sich gleichzeitig auf das Gespräch, das Fliegen und die Suche nach den Seehunden zu konzentrieren. „Es wird Zeit, dass wir einen Weg finden, wie wir beide überleben können”, sagte sie. „Ich möchte dir wirklich gerne das Lesen beibringen. Dann kannst du all diese Sachen selbst herausfinden.”
Während die Mädchen suchend die Küste entlang flogen und bei jeder Seehundbank tiefer gingen, wurde es langsam dunkel.
„Ich hätte nie gedacht, dass wir für ein so kurzes Stück so lange brauchen”, sagte Kaylee.
„Das liegt nur an den vielen Seehunden.”
„Örg, örg”, alberte Kaylee. Bryanna musste lachen und sank tiefer. Ein Lichtstrahl durchschnitt die Nacht, badete sie in gleißender Helle und wanderte weiter. Kaylee schrie und Bryanna landete vorsichtshalber. Als das Licht erneut über das Meer und die steinige Küste strich, wurde ihr klar, woher es kam.
„Das ist der Leuchtturm von Stoer. Bis dort kann es nicht mehr weit sein.”
„Mann, war das hell.”
„Sie haben ihn wohl gerade erst eingeschaltet. Er leuchtet über zwanzig Meilen weit.”
Wieder huschte das Licht über die Landschaft. Kaylee sah sie erstaunt an.
„Woher weißt du das?”
„Wir mussten die Leuchttürme Schottlands in der Schule auswendig lernen.”
„Und wofür braucht man so ein helles Licht?”
Während das Licht viermal pro Minute über sie hinweg strich, erklärte Bryanna Kaylee den Sinn von Leuchttürmen. Anschließend erzählte sie ihr von den drei Generationen der Stevensons, die Leuchttürme gebaut hatten. „Nur der Sohn von Thomas wollte kein Ingenieur werden, sondern schreiben. Bis heute ist Robert Lewis Stevenson einer unserer bekanntesten Schriftsteller. Du glaubst gar nicht, wie enttäuscht sein Vater war.”
Kaylee grinste. „Irgendwie erinnert mich das an uns. Wir wollen auch beide nicht das, was unsere Eltern für uns geplant haben.”
„Genau deshalb sollten wir zusehen, dass wir die letzten beiden Frauen finden. Dann kann ich die Cailleach aufsuchen, die uns sagt, wo Morag ist.” Bryanna hob erneut ab und glitt mit Kaylee am Arm im Tiefflug über die felsige Küste. Geschickt duckte sie sich unter dem Lichtstrahl des Leuchtturms hindurch. Sie wollte nicht gesehen werden. Es dauerte nicht lange, bis sie die Landspitze Point of Stoer umrundeten.
Vor ihnen ragte eine riesige Felsnadel aus dem Meer. Daneben spülten die Wellen über den Fuß eines flacheren Felsens, auf dem eine Frau und ein Kind saßen. Beide waren nackt. Als sie Bryanna und Kaylee bemerkten, winkten sie. Bryanna landete. Der Fels war feucht vom Meerwasser, aber Bryannas Füße fanden genug Halt. Überrascht stellte sie fest, dass der Felsen beinahe so groß war, wie ein kleines Einfamilienhaus. Neben der Steilküste und der Felsnadel, dem Man of Stoer, wirkte er kleiner als er war. Die Frau und das Kind kletterten zu den Mädchen hinauf.
„Da seid ihr ja endlich”, sagte die Frau. „Wir haben Ewigkeiten auf euch gewartet.” Sie reichte Bryanna die Hand und drückte sie fest. Schwielen kratzten gegen Bryannas weiche Handfläche. Als die Frau Kaylee die Hand gab, erkannte Bryanna, dass sie Schwimmhäute zwischen den Fingern hatte.
„Du bist ein Selkie?”
„Wie meine Tochter.” Die Frau zeigte auf das Kind, das neben ihr stand und zwei Felle im Arm hielt. Die junge Frau streckte die Hand aus.
„Gib mir die Schere.”
Bryanna gehorchte. Die Frau nahm sie ihr ab, schnitt ihrer Tochter eine Haarsträhne ab und gab sie samt der Schere zurück. Bryanna steckte beides ein und bedankte sich. Die Selkie lächelte.
„Sag Morag, dass wir damit quitt sind. Ach ja, hütet euch vor den blauen Männern, wenn ihr den Sruth na Fear
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