Schreckensbleich
sein, in knapp vierundzwanzig Stunden.«
»Was genau hat er Ihnen erzählt?«
Drake berichtete.
»Und glauben Sie, er hat sie angelogen?«, wollte Driscoll wissen.
»Schien keinen besonderen Grund zu haben.«
»Sie glauben, er ist schon tot?«
»Könnte sein.«
»Könnte auch sein, dass er versucht, uns in die Irre zu führen.«
»Was bleibt uns anderes übrig?«
Sie befanden sich eine Autostunde nördlich von Seattle. Driscoll befingerte das Stück Papier. Er griff zum Funkgerät und gab die Adresse durch.
***
Grady fuhr. Er fuhr ziellos und erratisch, rammte parkende Autos, sein Gesichtsfeld wurde immer enger. Er bog auf die Hauptstraße ab. Scheinwerfer kamen ihm aus dem Regen entgegen. Er drückte auf die Hupe und schwenkte zurück in seine Spur. Anderthalb Kilometer vor ihm war ein Seniorenheim, an dem er vorhin vorbeigefahren war; ein Krankenwagen stand in der leicht erhöhten Auffahrt wie der Tod persönlich, wartete einfach nur.
Er hielt an. Öffnete die Tür des Lincoln und fiel halb auf die Straße, seinen Koffer in der einen Hand, die andere auf das zerfetzte Loch in seiner Seite gepresst. Er nahm sich nicht die Zeit, die Wagentür zuzuschlagen, ließ sie einfach offen stehen, das Innere des Lincoln nicht weniger als ein grauenhaftes Katastrophenszenario. Blutgetränktes Leder, Glasscherben, das Armaturenbrett vom Feuer der Maschinenpistole zersägt. Die Hand an die Seite gedrückt, stolperte er vorwärts.
Zuerst versuchte er es mit den Türgriffen. Als die Türen nicht aufgingen, zerschoss er die beiden Rückfenster des Krankenwagens und drückte das Glas mit der Hand nach innen. Dann griff er hinein und hantierte am Türriegel herum, bis die Tür aufschwang, und stemmte sich ins Innere hinauf.
Verzweifelt durchwühlte er den hinteren Teil des Wagens, kippte Behälter mit Alkoholtupfern, Mullkompressen und Pflasterrollen aus. Er fand das Morphium, zog eine Spritze auf und entleerte sie in sein Bein. Fast augenblicklich breitete sich dieses Gefühl in ihm aus, sein Herz wurde langsamer, schwebte fast, träumerische Schmerzen irgendwo dort draußen, wie das Grollen ferner Gewitterwolken. Er zog sein Hemd hoch und inspizierte das Loch. Ein glatter Durchschuss, eine kleine Aufstülpung der Haut. Es schien nichts Lebenswichtiges getroffen worden zu sein, der Muskel verfärbte sich bereits violett und das Loch war schwarz und voll, bis zum Rand mit seinem eigenen dunklen Blut gefüllt. Im Blechspiegel des Medikamentenschränkchens betrachtete er die Eintrittswunde in seinem Rücken. Dieselbe entstellte Schwärze. Er würde schon wieder werden, dachte Grady. Nur noch ein paar Stunden, und alles wäre erledigt. Er griff nach einer Flasche mit Wundalkohol, schüttete ihn darüber, spürte wieder die Schmerzen dort. Noch mehr Morphium. Dann Mullkompressen und Pflasterstreifen, eine Schicht um Rücken und Bauch. Er ließ das Hemd über die Körpermitte fallen, klatschnass von Blut und Regen. Vor seinen Augen verschwamm abermals alles. Er schlug sich hart ins Gesicht und zog den Messerkoffer heran, packte ihn voller Spritzen und Morphiumflaschen. Der Koffer war bereits schwer, mit Waffen und Heroin gefüllt. Draußen fiel immer noch der Regen.
Wie hatten sie ihn gefunden?
Grady konnte sich gut vorstellen, wer ihn verraten hatte. Er hatte die feste Absicht, sich Nora zurückzuholen und die Sache mit Hunt zu Ende zu bringen. Wenn er schnell an eine Adresse herankommen konnte, dann hatte er vielleicht noch eine Chance. Der Lincoln stand draußen auf der Straße, doch er ging nicht hin. Stattdessen hielt er auf eines der alten Autos zu, die neben dem Seniorenheim standen, zerschlug das Fenster und stieg ein. Sein Bauch und sein Rücken standen in Flammen, doch es wurde nicht schlimmer. Das einzige Blut war jetzt das auf seinem Hemd. Er zog die Drähte unter der Lenksäule hervor und hielt sie gegeneinander, bis der Motor ansprang.
***
Grady war weg. Sie war auf sich allein gestellt. Nora drückte sich tiefer unter die Treppe. Sie konnte den kalten Mineralgeruch des Zements riechen, feuchte Kellerluft. Durch die Lücken zwischen den Stufen sah sie einen Mann die Treppe herunterkommen, dann noch einen. Der eine hielt eine Maschinenpistole in der Hand, der andere eine Art Sturmgewehr. Beide Männer standen am Fuß der Treppe, vor ihnen die offene Kellertür und das Geräusch des Regens, der auf das Gras jenseits der Tür prasselte.
Nora schob sich rückwärts, Schuh gegen Zement, bis sie an der Wand
Weitere Kostenlose Bücher