Schreckensbleich
Adresse, die Hunt uns gegeben hat?«
»Nein, ’ne andere.«
»Überwachen Ihre Männer immer noch dieses Haus?«
»Die letzten zwei Stunden ist da niemand gekommen oder gegangen. Was denken Sie?«
»Haben Sie den Steckbrief von Hunt?«
»Hier.« Driscoll reichte ihn Drake über den Schreibtisch.
Drake saß da und studierte das Gesicht, das ihm entgegenstarrte, eckig, schmal, das Foto körnig, die Farben verschwommen. »Wissen Sie, was ich Ihnen da erzählt habe, von meinem Gespräch mit Hunt. Glauben Sie, da ist irgendwas dran, an dem, was er über meinen Vater gesagt hat?«
»Das kann ich Ihnen nicht beantworten«, erwiderte Driscoll.
Drake faltete den Steckbrief zusammen und steckte ihn in die Tasche.
»Was haben Sie vor?«, fragte Driscoll.
»Was glauben Sie?«
»Der Wärter wird wissen wollen, was Sache ist. Ich kann in Monroe anrufen – für die Besuchszeit sind Sie vielleicht ein bisschen spät dran.«
»Ist wohl an der Zeit.«
»Ja«, pflichtete Driscoll ihm bei. »Ich hab schon die ganze Zeit gewartet, ob Sie das schaffen.«
Drake starrte auf den Ausdruck in seiner Hand hinunter; Hunt Gesicht blickte zu ihm auf. »Werden Sie es eigentlich jemals leid, Menschen sterben zu sehen?«, fragte er.
»Noch nicht.« Driscoll stand auf und ging zu einem der Aktenschränke hinüber. Er zog seine kugelsichere Weste heraus und machte sich daran, sie festzuzurren. »Wie gesagt, wenn Heroin im Spiel ist, überrascht mich gar nichts.«
***
Grady fuhr durch das Wohnviertel im Norden Seattles, bis er das Haus des Anwalts fand. Er war mal hier gewesen, doch das war schon lange her, eine simple Besprechung. Die Aussicht hatte ihn beeindruckt, und die Art und Weise, wie der Anwalt mit ihm sprach. Für einen einzigen Auftrag war ihm mehr geboten worden, als er in einem Jahr verdienen konnte. Seitdem war immer alles übers Telefon abgewickelt worden, doch das Geld war immer das gleiche gewesen. Es war toll, so etwas laufen zu haben, und schon vom ersten Tag an hatte er gewusst, dass er das nicht würde aufgeben können.
Grady fuhr an dem Haus vorbei und parkte den Wagen. Das Tor stand ein Stück offen, und er quetschte sich hindurch und fühlte dabei, wie der Schmerz in ihm aufwallte. Sein Hemd war fast getrocknet und so steif wie dicke Leinwand, doch es regnete immer noch, und seine Kleider wurden wieder schwer. Hohe Rhododendronbüsche wuchsen dicht an dicht entlang der Auffahrt und ließen die volle Größe des Hauses nicht erkennen. Teilweise auf einem Hügel errichtet, ruhte es auf Stelzen, mit Blick auf die Meerenge. Ein Haus, gebaut wie viele Häuser aus den Fünfzigern, die Front im Ranch-Stil, und hinten mit gewölbten Decken und einem großen, offenen Wohnbereich. Soweit Grady sich erinnerte, konnte man über die ganze Meerenge blicken, bis zu den schneegekrönten Olympics, die über immergrünen Hügeln aufragten. All das war jetzt verschwunden, wegen der herannahenden Dunkelheit und dem strömenden Regen. Er fühlte, wie das Wasser sein Hemd allmählich von neuem durchtränkte; das Blut fühlte sich wie Schlamm an, als er mit den Fingern über den verschmutzten Stoff strich.
Das Geräusch seiner Füße auf der gekiesten Auffahrt war durch das Plätschern des Regens hindurch gerade noch zu vernehmen. Er trug den Messerkoffer bei sich, und obgleich es weh tat, ging er gebückt, versuchte, sich nicht sehen zu lassen.
Als er sich dem Haus näherte, konnte er im Schatten des Vordachs ein Auto ausmachen; der Fahrer des Anwalts saß am Steuer. Grady blieb stehen. Zwischen Windböen hörte er Musik aus dem Haus dringen. Der Fahrer hatte sich nicht gerührt, und nach einer Minute machte Grady ein paar vorsichtige Schritte auf den Wagen zu. Als er ihn erreichte, konnte er sehen, dass der Fahrer tot war, der Kopf hing ihm schlaff auf der Brust.
Grady kauerte neben dem Auto und suchte die Büsche mit den Blicken ab; der Regen tropfte vom Vordach auf die Auffahrt. Eine Wassernase bildete sich langsam und rollte sein Gesicht hinab.
Grady folgte den Klängen der Musik dorthin, wo die Mauer aus Feldsteinen die Hügelflanke abstützte. Licht fiel aus den Wohnzimmerfenstern auf eine Terrasse. Fünfzehn Meter tiefer sah er in der Beinahe-Schwärze des Unterholzes und der erbarmungslosen Felsen das Mädchen liegen – eine Geistererscheinung des fallenden Regens –, wie ein Gespenst in einen dünnen weißen Morgenmantel gehüllt, der über der Brust aufklaffte und ihre nackten Brüste sehen ließ. Sie lag mit
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