Schreckensbleich
dem Kopf nach unten da, den einen Arm in einem unnatürlichen Winkel zurückgebogen, tiefe Risswunden am Körper, wo sie auf die Felsen aufgeschlagen war. Grady stand da und sah sie an, dann trat er durch das eingeschlagene Fenster ins Wohnzimmer.
***
Der Wärter drückte auf den Türöffner, und Drake trat in den Warteraum. Überall stählerne Picknicktische. Keine anderen Besucher außer ihm; die Besuchszeit war vorbei und der Raum nicht mehr in Betrieb. In der gegenüberliegenden Ecke stand ein Wachmann, sagte jedoch nichts, als Drake Platz nahm. Nach fünf Minuten surrte der Türöffner der Tür gegenüber, und sein Vater kam herein. Drake entfaltete das ausgedruckte Bild von Phil Hunt auf dem Tisch.
Drakes Vater trug den üblichen Overall und Pantoffeln; er hatte Bartstoppeln, und sein Kopf war kahlrasiert. Er sah gröber aus, als Drake ihn in Erinnerung hatte. Er sah aus wie ein Sträfling. Irgendetwas an ihm machte Drake sogar ein bisschen Angst, der Stoppelbart, der starre, leblose Blick, mit dem er seinen Sohn bedachte, als er sich setzte. Er war nicht der Mann, an den Drake sich erinnerte; er war etwas anderes, und Drake saß da und versuchte, dieses andere zu verstehen. Zehn Jahre waren vergangen, seit sie sich von Angesicht zu Angesicht gesehen hatten. »Ich wusste ja, dass was ganz Besonderes los sein muss, damit du mich besuchen kommst«, bemerkte sein Vater.
***
Der Mund des Anwalts war so zertrümmert worden, dass er kaum sprechen konnte.
Grady kniete nieder, der Anwalt versuchte, Worte zu finden. Für Grady sah es aus, als hätte ihn jemand mit einem Fleischklopfer bearbeitet. Zerschmetterte Schienbeine, der eine Fuß so zermalmt, dass er aussah wie Gelatine, eingeschlagene Rippen, die Hose von Blut durchweicht und die Finger entstellt und so dick geschwollen wie Mohrrüben. Eine Blutlache auf dem Teppich rund um ihn herum. Grady beugte sich weiter zu ihm herab, hörte die Luft durch die aufgeplatzten Lippen des Anwalts pfeifen. Alles, was er wollte, war die Adresse der Vietnamesen.
Grady wagte nicht, ihn zu berühren; der Teppich unter ihm war blutgetränkt, als schmölze der Anwalt langsam in den Boden. Er wartete, fand irgendeine verborgene Geduldsreserve. Mit den Lippen formte der Verletzte die Adresse, die Grady brauchte. Noch ein Job für den Anwalt, eine letzte Fahrt, um alles zu begleichen. Alles, was Grady jetzt wusste, war, dass sein Leben, oder zumindest das Leben, das er bisher genossen hatte, sich ändern würde, und dass der Anwalt irgendwie dafür gesorgt hatte, dass er nicht durchdrehte. Grady konnte fühlen, wie alles anders wurde, Risse begannen sich auf seiner Haut auszubreiten, wie Porzellan, das in der Hitze eines Ofens springt, Spalten taten sich auf, und das Feuer brach hindurch.
»Töten Sie mich«, sagte der Anwalt. »Lassen Sie mich nicht so liegen.«
So weit Grady denken konnte, war es das erste Mal, dass es ihn schmerzte, jemanden zu töten. Er empfand keine Freude, fühlte überhaupt nichts mehr, nur die dumpfe Last des Abzugs an seinem Finger und den Rückstoß der Kugel, als sie den Lauf verließ.
Das Haus war in der Nähe, nahe genug, dass Grady dachte, wenn er Glück hatte, könnte er die Vietnamesen auf ihrem Weg nach Hause vielleicht sogar abgehängt haben. Und obwohl er hoffte, dass Nora noch am Leben war – wenn nicht, hatte sie sich hoffentlich gewehrt und die Männer so lange aufgehalten, dass es sich auszahlte.
Als Grady einen Block von der Adresse entfernt hielt, konnte er das Zivilfahrzeug der Polizei erkennen, das dort stand, so unverkennbar, als liefe die Sirene. Zwei Männer saßen in dem Wagen, dämmriger Regen fiel um sie herum. Grady parkte um die Ecke, zerschlug die Innenbeleuchtung des alten Autos und stieg aus. Nacht überall um ihn herum. Er trug neue Kleider, von dem Anwalt, und er hatte seinen Messerkoffer dabei.
Eine Weile beobachtete er die Männer. Er kannte sie nicht. Brauchte sie nicht zu kennen. Als der Lexus die Straße herunterkam, konnte er sehen, wie die beiden Männer in dem Zivilauto sich duckten. Er folgte dem Lexus mit den Augen, bis er vorbeifuhr und dann die Einfahrt hinaufrollte und hinter dem Haus verschwand.
Der Mann auf der Fahrerseite des parkenden Wagens hatte gerade sein Handy zugeklappt, als Grady mit leeren Händen auf ihn zukam, ans Fenster klopfte und mit der Hand eine Kurbelbewegung machte. Die beiden Männer blickten zu ihm empor. Grady lächelte. Wieder machte er die Bewegung mit der Hand. Er konnte
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