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Schreckensbleich

Schreckensbleich

Titel: Schreckensbleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urban Waite
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zu, wie weißer Schaum unter dem Heck des anderen Bootes hervorquoll und die beiden Männer in die Dunkelheit davonfuhren.
    Nachdem sie weg waren, konnte Hunt das leise Atmen der Frau neben ihm hören. In der Nacht wirkte ihr Haar schwarz; es war aus dem Gesicht nach hinten gezogen, und an der Kopfhaut waren feine Babyhaare zu sehen, weil es zu straff zusammengebunden war. Hunt schätzte sie auf etwa zwanzig, obwohl sie auch dreißig hätte sein können, bei Asiatinnen konnte er das nie genau sagen. Sie war dürr, flachbrüstig und so klein wie ein Kind.
    »Dazu ist es also gekommen«, sagte er. Das Mädchen sah ihn an. »Du sprichst kein Englisch, stimmt’s?«
    »Ein bisschen.«
    Hunt war überrascht; ihr Akzent war stark, aber die Worte waren verständlich. Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. »Wir haben’s nicht so gemeint, so über dich zu reden.«
    »Ich weiß, was ich bin«, erwiderte das Mädchen.
    »Ja«, sagte Hunt. Er sah auf seine Hände, nur um irgendwo hinzuschauen. Das Drogenpaket, das er von den beiden Männern zu erhalten erwartet hatte, wäre gut gewesen. Besser als gut, es wäre alles gewesen, was er brauchte, um davonzukommen. Die Männer hatten recht gehabt, was ihn betraf: Wenn er das hier versaute, war er tot. Er war überrascht, dass er nicht schon längst tot war. Wie lange glaubte er, so weiterarbeiten zu können? Wie lange, bis er genauso endete wie der Junge?
    Mit dem Mädchen hatte er nicht gerechnet. Das war nicht so klar und eindeutig, wie Hunt es gewohnt war, doch er dachte sich, dass es immer noch Hoffnung gab, wenn Eddie die Drogen in ihrem Magen weiterverkaufen konnte.
    Bevor er von dem Mädchen gewusst hatte, hatte Hunt vorgehabt, sich die Drogen zu schnappen – Drogen, die in den Fendern seines Bootes hätten stecken sollen, sich aber im Magen einer jungen Frau befanden, eines Mädchens, das sprach und atmete, das einen Verstand besaß und bei dem Ganzen etwas zu verlieren hatte. Er hatte gewusst, dass er sich die Drogen unter den Nagel reißen würde, von dem Moment an, als Eddie ihm von dem Job erzählt hatte. Von dem Moment an, als er von dem Jungen gehört hatte, davon, was geschehen war – und was jetzt mit ihm passieren würde, das wusste er.
    Dass man ihn umbringen würde, war etwas, woran er nicht zweifelte. Vielleicht nicht heute, doch er wusste, dass es passieren könnte, passieren würde, wenn er sich jemals in derselben Lage wiederfand wie der Junge, eingesperrt, bereit, alles zu sagen, um nicht wieder in Monroe zu landen.
    Eine Wahl haben, das war alles, was er wollte. Zu wissen, dass er auch etwas zu sagen hatte, wenn auch nicht viel, wenn es darum ging, wann er starb und wie, das gab ihm ein wenig Hoffnung. Das Mädchen, dachte er, was konnte er mit ihr anfangen? Obwohl er schon einmal getötet hatte, war er doch kein Killer, jedenfalls jetzt nicht mehr, nicht mit Absicht.
    Er brauchte das Heroin, das sie in sich trug. Brauchte es, um sich aus seinem Leben zu befreien. Denn es war nicht nur Verzweiflung, was er empfand, sondern auch ein seltsames Glücksgefühl. Das Glücksgefühl, zu wissen, dass er es vielleicht schaffen würde, dass er jetzt wenigstens eine Chance hatte. Das andere Boot war längst weg, in der Nacht verschwunden, die Männer auf dem Rückweg zu irgendeinem verborgenen Schlupfwinkel, von dem aus sie operierten. Er lotste das Mädchen zu einem Sitzplatz und fühlte, wie die erste Welle der heimkehrenden Fähre das Boot traf. Sie zog darunter hindurch, und als er sich zur Seite lehnte, um das Gleichgewicht zu halten, merkte er, wie überall um ihn herum Fiberglasstaub herabrieselte.
    ***
    Durch das Zielfernrohr sah Grady, wie die Kugel dicht über Hunts Kopf einschlug. Er sah die schwarze Schmarre, wo sie Hunt verfehlt und sich in das weiße Fiberglas gebohrt hatte, das vom Nachtsichtgerät grün getönt war. Er war eine halbe Meile entfernt, verborgen von der bewölkten Nacht und dem dunklen Wasser, und nur das Zielfernrohr verriet ihm, dass Hunt überhaupt existierte.
    Töte Hunt, dachte er.
    Was ist mit dem Mädchen?
    Ausweiden.
    Ja.
    Er zielte von neuem und feuerte.
    ***
    Spinnennetzrisse zogen sich über das Cockpitglas, als eine weitere Kugel das Boot traf. Hunt lag bäuchlings da, die Hände vorgestreckt und die Wange auf dem kalten, nassen Deck. Auch das Mädchen hatte sich geduckt, es kauerte vor der kleinen Kabinentür. Er sagte ihr, sie solle sie aufmachen. Er sagte, sie solle hinuntersteigen und nicht wieder

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