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Schrei der Nachtigall

Schrei der Nachtigall

Titel: Schrei der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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glücklich war. Das stimmt doch, oder?« Er hatte sich vorgenommen, nicht lange um den heißen Brei herumzureden, sondern gleich das Wesentliche anzusprechen.
    Liane Wrotzeck reagierte mit einem Schulterzucken und nahm ebenfalls Platz. »Sind Sie auch noch Psychologe?«
    »Nennen wir es Berufserfahrung. Ich bin seit über fünfundzwanzig Jahren bei der Polizei und habe unzählige Menschen kennengelernt. Ich spüre, wenn jemand glücklich ist und wenn nicht. Außerdem haben Sie bei unserm ersten Gespräch selber gesagt, dass es sicherlich glücklichere Ehen gibt. Erzählen Sie mir etwas über Ihren Mann. Sie brauchen auch keine Angst zu haben, dass ich Ihnen das Wort im Mund rumdrehe oder Ihnen gar einen Mord anlaste. Ganz bestimmt nicht, und ganz ehrlich, momentan haben wir nichts als einen Anruf, von dem wir nicht einmal wissen, ob der Anrufer überhaupt die Wahrheit gesagt hat.«
    Sie schlug die Beine übereinander, nahm jedoch diesmal nicht die Abwehrhaltung ein, indem sie die Arme demonstrativ vor der Brust verschränkte, sondern legte sie auf die Sessellehne.
    »Ich habe Ihnen doch vorhin schon so viel über ihn erzählt. Kurt war kein einfacher Mensch, aber er war auch nicht so böse, wie ihn viele hinstellen. Er war eben stur und hat sich nichts sagen lassen.«
    »Wie lange waren Sie verheiratet?«
    »Dreiundzwanzig Jahre.«
    »Ich weiß, ich habe diese Frage schon einmal gestellt, ich würde aber trotzdem gerne wissen: Haben Sie Ihren Mann geliebt?«
    »Als wir uns kennenlernten, mein Gott, da hat er schon was hergemacht. Dann war mit einem Mal Thomas unterwegs, und wir haben geheiratet. Aber kaum waren wir verheiratet, hat Kurt ein ganz anderes Gesicht gezeigt, eins, das ich nie sehen wollte. Aber wie heißt es doch so schön – man soll füreinander da sein und sich lieben und ehren«, sie machte eine Pause, »bis dass der Tod uns scheidet.«
    Brandt hatte den Eindruck, als stünde Liane Wrotzeck kurz davor, sich allen Ballast von der Seele zu reden. Er beugte sich nach vorn und fragte leise und behutsam: »Was für ein Gesicht hat Ihr Mann gezeigt? Sie müssen diese Frage nicht beantworten, aber ich garantiere Ihnen, ich werde alles, was Sie mir sagen, absolut vertraulich behandeln.«
    Sie schüttelte den Kopf und sah Brandt mit einem gewissen Stolz an. »Man soll die Toten in Frieden ruhen lassen. Was bringt es jetzt noch, Dinge über ihn zu erzählen, die längst der Vergangenheit angehören? Oder besser gesagt, wem nützt es?«
    »Möglicherweise mir. Und vielleicht sogar Ihnen.«
    »Mein Leben ist gelebt, ich habe weder etwas zu gewinnen noch zu verlieren. Er soll seinen Frieden haben. Warten Sie bitte, ich schaue nach, ob ich Thomas finden kann, denn wegen ihm sind Sie ja gekommen.« Sie wollte aufstehen, doch Brandt hielt sie zurück.
    »Was haben Sie gefühlt, als Sie ihn tot in der Scheune liegen sahen?«
    Liane Wrotzeck, die sich schon halb aus dem Sessel erhoben hatte, setzte sich wieder hin. Sie ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor sie antwortete: »Ganz ehrlich?Nichts, und dafür schäme ich mich. Es war, als würde ich auf einen Fremden schauen. Ich kann bis heute keine Trauer empfinden.« Sie senkte den Blick, und Brandt betrachtete sie unauffällig. Sie ist zerbrechlich und doch stark, dachte er, und trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass sie mir eine ganze Menge verschweigt.
    »Ist Ihr Mann Ihnen gegenüber auch handgreiflich geworden?«, fragte er unvermittelt.
    Sie schaute erschrocken auf, Brandt wusste, er hatte ins Schwarze getroffen.
    »Warum fragen Sie mich das? Ist das etwa auch Berufserfahrung?«
    »Wahrscheinlich.«
    »Na ja, vielleicht würden Sie’s ja so oder so erfahren. Ja, ab und zu ist ihm die Hand ausgerutscht. Vor allem, wenn er zu viel getrunken hat. Und in der letzten Zeit hat er ziemlich viel getrunken. Ich verstehe bis heute nicht, wie er in diesem Zustand noch arbeiten konnte … Bin ich jetzt verdächtig, ihn getötet zu haben?«, fragte sie nicht ohne einen Anflug von Spott in der Stimme.
    »Um Himmels willen, nein. Ich möchte nur etwas über die Persönlichkeit Ihres Mannes herausfinden, um mir so ein klareres Bild von ihm machen zu können.«
    Liane Wrotzeck lachte kurz und bitter auf und entgegnete: »Das Bild, das Sie von ihm bekommen werden, wird nicht sehr schön sein, denn ich nehme an, Sie werden außer mir auch noch andere über ihn ausfragen. Aber bevor Sie’s von andern hören, will ich Ihnen gleich sagen, dass er mit jedem Jahr mehr zu

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