Schrei der Nachtigall
Jahr sollte eine Kuh aber schon werfen, damit der Milchfluss nicht versiegt. Meine Mädels werden aber nicht die meiste Zeit im Stall gehalten, die beiden da drin kommen morgen früh schon wieder auf die Weide. Wissen Sie, die meisten Bauern und Landwirte, die ich kenne, halten ihre Viecher in Boxen und quälen sie barbarisch. Die armen Kreaturen sind angekettetund kriegen ein ums andere Mal einen Elektroschock verpasst, wenn sie nicht ordentlich scheißen, könnte ja sonst zu viel dreckig werden. Manchmal möchte ich dazwischenhauen und … Dabei brauchen Kühe frische Luft. Denen macht’s auch nichts aus, wenn’s regnet oder mal ’ne kühle Brise weht. Und Kühe sind viel sensibler, als die meisten glauben. Und sie sind sehr gesellig. Und für den Gestank im Stall können sie nichts, es ist eben die Natur.«
»Sie lieben Ihre Tiere, was?«
»Klar. Und meine kriegen auch keine Antibiotika, so als Prophylaxe, damit sie nicht krank werden. Meine Mädels sind fast nie krank, und wenn doch mal eine ein Zipperlein hat, hol ich den Doktor. Aber glauben Sie mir, ich pass wie ein Schießhund auf, dass der ihnen nicht diese Chemiekeulen verabreicht … Genug davon, Sie sind nicht gekommen, um von mir einen Vortrag über artgerechte Tierhaltung zu hören. Was kann ich für Sie tun?«
Brandt holte das Foto aus seiner Jacke und hielt es Köhler wortlos hin. Der starrte es an und machte ein Gesicht, als wäre er vom Blitz getroffen.
»Wo haben Sie das her?«, fragte er mit kehliger Stimme.
»Ist das Ihre Frau?«
»Das wissen Sie doch, sonst würden Sie’s mir nicht zeigen. Woher haben Sie’s?«
»Ich hab’s bei Wrotzeck gefunden. Können Sie sich vorstellen, warum dieses Foto in seinem Besitz war?«
Köhler schluckte schwer und schüttelte den Kopf. »Dieser gottverdammte Hurensohn! Geschieht ihm recht, dass er jetzt aufgeschnitten wird!«
»Was meinen Sie damit?«
»Vergessen Sie’s, unwichtig.« Köhlers Blick hatte sich verdüstert. Er zog eine filterlose Zigarette aus seiner Hemdtasche und zündete sie an. »Ist auch ein Naturprodukt, ohne jeden Zusatz von suchtmachenden Stoffen«, erklärte er. »Schmeckt einfach nur.«
»Schön für Sie. Trotzdem würde ich gerne meine Frage beantwortet haben. Wie könnte dieses Foto in Wrotzecks Besitz gelangt sein?«
Köhler nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch durch die Nase aus. »Keine Ahnung, woher der das hat«, stieß er hervor.
»Irgendwie glaube ich Ihnen nicht. Machen Sie’s mir doch nicht so schwer. Ihre Frau war noch sehr jung, als dieses Foto gemacht wurde. Möchten Sie, dass ich mir etwas zusammenreime?«
»Na gut, wenn Sie’s unbedingt wissen wollen. Inge, meine verstorbene Frau, war damals ganz kurz mit Wrotzeck zusammen. Sie waren kein Paar, sie waren nur ziemlich gut befreundet. Dann hab ich sie bei einer Feier kennengelernt, hab mich unsterblich in sie verliebt, und da fing das Buhlen an. Der hat sich ins Zeug gelegt, als ging’s um sein Leben, aber Inge hat sich für mich entschieden. Wir haben vor dreiundzwanzig Jahren geheiratet, am 21. Juni 1981. Drei Jahre später ist Johannes geboren.«
»Wie hat Wrotzeck die Niederlage verkraftet?«
»Da gab’s nicht viel zu verkraften, der hat doch schon ein paar Tage später Liane kennengelernt. Die beiden haben sogar noch zwei Wochen vor uns geheiratet.«
»Damit haben Sie meine Frage nicht beantwortet. Wie hat er die Niederlage verkraftet?«
»Woher soll ich das denn wissen? Ich hab doch keine Ahnung, was in seinem Schädel vorgegangen ist. Außerdem weiß ich gar nicht, ob’s eine Niederlage für ihn war.«
»Das Foto wird er aber nicht nur zum Spaß aufbewahrt haben. Wann fing Ihr Streit genau an?«
»Hab ich doch schon gesagt, vor sechzehn Jahren …«
»Und davor war alles eitel Sonnenschein?«
»Quatsch! Aber als der alte Wrotzeck noch lebte, bestimmte er, wo’s langging. Erst nach seinem Tod fing die ganze Scheiße an.«
»Hat Wrotzeck Sie jemals auf Ihre Frau angesprochen?«
»Ich weiß zwar nicht, wie Sie das meinen, aber er hat sie einmal als Hure beschimpft. Das war nach seinem endgültigen Knockout vor Gericht.«
»Wann war das?«
»März 2000. Was glauben Sie, was nach diesem Urteil hier los war. Der hat nur noch rumgestänkert, und zwar schlimmer als je zuvor. Wrotzeck konnte nun mal mit Niederlagen nicht umgehen. Der hat ständig einen Grund gesucht, sich mit mir anzulegen. Ich hab aber nicht mit gleicher Münze heimgezahlt. Im selben Sommer sind drei meiner besten
Weitere Kostenlose Bücher