Schrei der Nachtigall
Stimme nicht hören, er wollte nur einen ruhigen Abend vor dem Fernseher haben. Mit Pizza, Salat, einer Flasche Bier oder einem Glas Rotwein und im Beisein seiner Töchter, die er seit Tagen kaum gesehen hatte.
Freitag, 17.35 Uhr
Sie war heute schon dreimal wach«, sagte Dr. Bakakis. »Wir haben keine Erklärung, für uns alle hier auf der Station ist das ein großes Rätsel. Aber wenn sie weiter so rapide Fortschritte macht, wird es auch nicht mehr lange dauern, bis sie aufsteht.«
Brandt hatte sich ans Bett gesetzt und betrachtete das ebenmäßig schöne Gesicht von Allegra. Er streichelte vorsichtig über ihre weiße Hand. Ihre Finger bewegten sich, ihr Atem ging etwas schneller, ihr Herzschlag beschleunigte sich wie schon am Mittwoch, als Brandt zum ersten Mal bei ihr war.
»Schläft sie jetzt?«, fragte er.
»Genau kann ich das nicht sagen, aber ich denke, sie merkt, dass jemand bei ihr sitzt.«
»Sind Sie eigentlich immer im Dienst?«, fragte Brandt, ohne aufzuschauen.
»Nur noch bis Sonntagabend, dann habe ich drei Wochen Urlaub. Irgendwie schade, ich habe mich auf den Urlaub gefreut und werde vermutlich gar nicht mitbekommen, wenn sie endgültig aufwacht. Herr Caffarelli hat ein Wunder bewirkt, das muss man ihm lassen. Er hat nie aufgegeben.«
»Hm, ich habe ihn kennengelernt. Aber er weist es zurück, irgendetwas mit diesem Wunder zu tun zu haben. Hat Allegra heute auch wieder etwas gesagt?«
»Sie hat ihren Bruder erkannt und etwas geflüstert. Der Junge war völlig durch den Wind. Er hat auch gleich danach seine Mutter angerufen. Sie kann es auch noch nichtbegreifen, keiner von uns kann es. Tut mir leid, aber ich habe noch andere Patienten, um die ich mich kümmern muss. Wenn was ist, sagen Sie einfach einer Schwester Bescheid.«
»Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie bleibende Schäden davonträgt?«
»Das lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau bestimmen, aber ich würde sagen, die Wahrscheinlichkeit ist eher gering. Sie hat in Anführungszeichen ›nur‹ vier Monate im Koma gelegen. Wäre es ein Jahr oder mehr, würden sich die Prognosen entsprechend verschlechtern. Ich lehne mich jetzt sehr weit aus dem Fenster und behaupte, sie wird wieder vollkommen genesen. Wir haben heute morgen eine Kernspintomographie gemacht, körperlich ist bei ihr alles in bester Ordnung. Sie hat auch den Vorteil, dass sie noch sehr jung ist. Ich muss jetzt aber wirklich los.«
Nachdem Dr. Bakakis das Zimmer verlassen hatte, beugte sich Brandt nach vorn und sagte leise: »Allegra, können Sie mich hören?«
Sie schloss die Finger um seine Hand. Noch war es ein kraftloses Umschließen, und doch spürte Brandt die Willensstärke, die dahintersteckte.
»Das ist gut, das ist sehr gut. Und jetzt tun Sie mir einen großen Gefallen, schlafen Sie nicht mehr, dafür haben Sie noch genügend Zeit in Ihrem Leben. Es gibt eine Menge Menschen, die sehnlichst darauf warten, Sie wiederzusehen. Einverstanden?«
Er meinte sie für einen Sekundenbruchteil lächeln zu sehen. Aber es kann auch Einbildung sein, dachte er.
Er merkte nicht, wie die Zeit verrann, und plötzlich trat Matteo Caffarelli ins Zimmer.
»Guten Tag, Herr Brandt«, sagte er erfreut. »Das ist schön, dass Sie da sind. Ist es nicht wundervoll, welche Fortschritte sie macht? Sie sieht so entspannt und glücklich aus. Was haben Sie ihr gesagt? Irgendetwas müssen Sie ihr gesagt haben, sonst würde sie nicht lächeln.«
»Sie lächelt?«
»Herr Brandt, ich habe vier Monate an ihrem Bett gesessen, ich kenne inzwischen ihre Mimik. Und ihre Gesichtsfarbe hat sich verändert. Sie ist längst nicht mehr so blass, sehen Sie nur, wie rosig ihre Wangen sind. Aber ich will Sie nicht stören, ich warte gerne draußen.«
»Nein, nein, bleiben Sie, ich muss sowieso gehen. Ich habe meinen Töchtern einen Abend mit ihrem Vater versprochen. Ich war in den letzten Tagen viel unterwegs.«
Er erhob sich und reichte Caffarelli die Hand. »Ich lasse Sie jetzt allein. Und ich würde mich freuen, wenn Sie mich auf dem laufenden halten würden.«
»Ich rufe Sie an«, sagte Caffarelli mit dem ihm eigenen Lächeln und nahm auf dem Stuhl Platz. »Und genießen Sie den Abend mit Ihren Töchtern. Wie alt sind sie?«
»Dreizehn und fünfzehn. Ein schwieriges Alter«, sagte Brandt lachend.
»Jedes Alter eines Kindes ist schön. Manchmal schwierig, aber immer schön. Wir alle waren doch mal Kinder.«
Er wandte sich Allegra zu, streichelte über ihr Gesicht und die
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