Schreib und stirb (Aargauer Kriminalromane) (German Edition)
öffnete. „Hier ist alles drin, Sie können den Ordner mitnehmen und kopieren, wenn Sie möchten. Nur meine eigenen unbeholfenen Schreibversuche habe ich entfernt, das wäre zu persönlich. Ich habe übrigens nicht wie die meisten anderen Teilnehmer im Seminarzentrum übernachtet, es sind ja nur zehn Minuten Fahrt zu mir nach Hause.“ Sie beschrieb, wie die Teilnehmenden am Freitag um fünf Uhr auf dem Herzberg eintrafen, sich gegenseitig vorstellten und ihre Erwartungen und Befürchtungen aufschreiben mussten. „Grüne Kärtchen für die Hoffnung, rote Kärtchen für die Ängste, Sie kennen das. Im Grunde ein guter Einstieg, aber Frau Beringer-Wülsenhofer – sie bat darum, immer mit Doppelnamen angesprochen zu werden – gab der Übung keine Struktur, so dass dieser Teil bis um zehn Uhr nachts dauerte. Sie blieb sehr vage, als ich nach dem Programm für Samstag und Sonntag fragte, bat mich sogar, meine Unternehmerseele abzulegen und mich dem Fluss des Kreativen zu überlassen. Genau dann hätte ich mich ausklinken sollen.“ Maggie lächelte selbstironisch. „Aber ich hatte immerhin sechshundert Franken bezahlt und hoffte auf Grund der grünen Karten, dass auch andere etwas lernen wollten.“
Sie nahm die Teilnehmerliste in die Hand. „Unter den zehn Frauen und zwei Männern gab es nur noch einen älteren Herrn, einen Herrn Weber, der darum bat, gefordert zu werden, während alle anderen sich äusserst gerne auf dem kreativen Fluss treiben liessen. Der Ablauf war so: Frau Beringer-Wülsenhofer gab mehrmals einen kurzen Input, beispielsweise zum Thema 'Wer spricht?', dann mussten wir uns zurückziehen und kleine Texte schreiben, die anschliessend im Plenum besprochen wurden. Die Moderatorin betonte, dass keine Kritik erwünscht sei, sondern 'ermutigende Hinweise', wie sie es nannte.“ Maggie schüttelte den Kopf und schenkte Tee nach. „Sie glauben nicht, wie viele böse Blicke und Tränen es trotzdem gab. Ich habe noch nie einen Kurs mitgemacht, in dem so viele sensible Seelen sassen, aber das hat wohl mit der Materie zu tun. Die Moderatorin hat jedenfalls meines Erachtens ihr Honorar nicht verdient.“
„Gab es am Ende eine mündliche oder schriftliche Seminarbeurteilung, in der Sie Ihre Bedenken äussern konnten?“ Angela beugte sich gespannt vor.
Maggie nickte und beschrieb mit Humor die säuselnde Schlussrunde, in der man sich gegenseitig 'ermutigende Anregungen' gab und 'positive Verstärkungen'. „Nicht dass Sie mich falsch verstehen, Frau Kaufmann, ich bin keine Befürworterin von abwertender Kritik, aber es war einfach zu viel des Guten. Ich machte mir im schriftlichen Bewertungsbogen Luft, wo übrigens darauf hingewiesen wurde, der Veranstalter sei sehr interessiert an konkreten Verbesserungsvorschlägen. Es wäre interessant zu wissen, ob sich etwas verändert hat.“
Man hörte einen Schlüssel in der Wohnungstüre und Selma sprang von ihren Hausaufgaben auf. „Götti!“ rief sie und stürzte sich in die Arme ihres Paten, der sie mühelos aufhob und sich dreimal mit ihr drehte. „Wir haben Besuch und ich bin fertig mit den Aufgaben, komm.“
Andrew Ehrlicher hängte seinen langen Wollmantel auf und legte Handschuhe und Schlüssel auf das Sideboard, dann liess er sich von Selma ins Wohnzimmer ziehen. Gross, schlank, grau meliertes Haar und blaue Augen, elegant aber nicht formell gekleidet – einfach ein Bild von einem Mann, dachte Angela, während Maggie sie amüsiert betrachtete. Sie kannte Andrews Wirkung auf Frauen, nicht nur die äusserliche.
„Frau Kaufmann, welche Freude, Sie in Person zu sehen!“ Sein Deutsch war gut, der angelsächsische Akzent charmant. „Ihr trinkt immer noch Tee um halb sieben? Höchste Zeit für das, was man im kolonialen Afrika einen 'sundowner' nannte. Ein Glas Champagner?“
Angela nickte. „Ein Glas nehme ich gerne, aber ich muss noch fahren.“
Er ging zum Kühlschrank. „Grapefruit Juice for the young lady?“
„Yes, please. And can I have some crackers, too?“ Selma schielte zu Angela, um den Effekt ihrer Englischkenntnisse zu prüfen, aber die beiden Frauen waren schon wieder im Gespräch.
Maggie zeigte auf die Teilnehmerliste. „Martin Weber hat vermutlich auch eine schlechte Beurteilung abgegeben, ich habe in einer Pause mit ihm gesprochen, er war nicht begeistert. Ach ja, und diese Frau hier, Sabine Scholl, ist gar nicht gekommen.“
„Das war sehr hilfreich, Frau Truninger, ich werde die Unterlagen gerne mitnehmen. Mal sehen, ob
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