Schritte im Schatten (German Edition)
Wahrheit? Wir – diese wenigen Leute, die untereinander über diese Dinge diskutierten – glaubten, dass es, obwohl alles, was die »kapitalistische Presse«, die Emigranten aus der Sowjetunion und die inzwischen zahlreichen Flüchtlinge aus den kommunistischen Ländern Osteuropas sagten, der Wahrheit entsprach, in der Sowjetunion doch noch ein paar reine Seelen – wenn auch verborgen – geben müsse, die »zur rechten Zeit« zum Vorschein kommen und sagen würden: »Ja, alles, was man über uns gesagt hat, ist wahr, aber jetzt werden wir die Sowjetunion auf den rechten Pfad zurückbringen.« Wenn ich hier das Wort »glaubten« benutze, dann war es im Grunde nur ein Halbglaube, denn mit jedem neuen Buch über die Sowjetunion oder nach jedem Gespräch mit jemandem, der dort gelebt hatte, war dieser Glaube allmählich immer schwächer geworden. Der Verlust des Glaubens an den Kommunismus hat seine exakte Parallele in Menschen, die jemanden lieben und nicht zulassen können, dass ihr Traum von der Liebe entschwindet. Heute weiß ich, dass alles, woran ich mich geklammert habe, Unsinn war. Ich kann nicht sagen, dass es mich über Gebühr erschüttert hat, denn was mich und meine geistige Existenz betrifft, hatte ich, wie man zu sagen pflegt, nicht alles auf ein Pferd gesetzt. Aber ich kannte Leute, die alles investiert hatten, Herz und Verstand, die manchmal schwere Opfer gebracht und nur für die goldene kommunistische Zukunft gelebt hatten, und die brachen rings um mich her zusammen oder gelangten unter heftigsten Auseinandersetzungen mit sich selbst zu entgegengesetzten Positionen. Diese Konversionen waren dramatisch; schon bald kursierte bei den Linken der Witz, dass die bloße Tatsache, dass einer eine kommunistische Vergangenheit habe, die bestmögliche Schulung garantiere, ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann zu werden.
Dass man den Glauben an die Sowjetunion und den Kommunismus verloren hatte, bedeutete nicht, dass man auch den Gedanken an die Revolution aufgab. Im Hintergrund stand immer die Idee, dass die Revolution notwendig war, um uns alle zu retten. Obwohl aus heutiger Sicht schwierig zu beurteilen, bin ich der Auffassung, dass die Revolution für annähernd weitere zwanzig Jahre ein grundlegendes Dogma blieb. Vielleicht sogar noch länger. Sie war dem Denken inhärent; man brauchte sie weder zu rechtfertigen noch anzusprechen. Revolution war gut. Der Opportunismus des Sozialismus war schlecht und zudem ein verabscheuenswürdiges Symptom von Feigheit, wie etwa der Glaube an Gott.
Das war – ist? – ein Teil unserer Denk- und Verstehensweisen. Nehmen wir Südafrika. Als ich mir über Südafrika in politischer Hinsicht bewusst wurde, war ich ungefähr zwanzig, und wir rechneten alle damit, dass es ein Blutbad geben würde, eine »Nacht der langen Messer«. Auch dies war so sehr Teil dessen, wie man die Dinge sah, dass es keiner eigenen Erklärung bedurfte. Als Mandela und de Klerk 1992 eine Einigung erzielten und das »unvermeidliche Blutbad« nicht mehr auf der Tagesordnung stand, haben sich Jahrzehnte politischer Überzeugung einfach in Luft aufgelöst.
1956 befand ich mich in einer überaus vertrauten Situation: Von wenigen Leuten abgesehen, konnte ich niemandem sagen, was ich dachte. Auf keinen Fall konnte ich Genossen, denen das Herz brach, die der Schock krank gemacht hatte, erklären, dass das, was Chruschtschow auf dem Zwanzigsten Parteitag gesagt hatte, lediglich Feigheit war: Er hätte die ganze Wahrheit sagen sollen.
Bevor ich zu meiner Reise aufbrach, trat die Partei an mich heran und fragte, ob der Künstler Paul Hogarth mich begleiten dürfe. Ich war nicht sonderlich erbaut davon, aber warum nicht.
Über diese Reise habe ich ein kleines Buch mit dem Titel
Heimkehr
geschrieben. Es ist noch erhältlich, falls es jemanden interessieren sollte.
Ich wohnte ein paar Tage im Haus der Zelters [12] , wo ich entdeckte, dass man in England, stets gewärtig, Kälte und Feuchtigkeit zu widerstehen, immer einen festen, harten, kleinen Knoten irgendwo in der Nähe des Solarplexus verspürte, der sich nie entspannte. Die wundervolle, belebende, trockene Hitze von Salisbury ergriff zuerst von meinen Knochen und dann vom Rest meines Körpers Besitz, sodass ich überhaupt keine Lust hatte, mit der Arbeit anzufangen. Aber ich hatte mich mit Bram Fischer [13] in Johannesburg verabredet, der mich dort mit Leuten zusammenbringen wollte und Paul Hogarth verraten hatte, wo er Szenen finden konnte, von
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