Schritte im Schatten (German Edition)
Schicksals würde bewirken, dass dieses Gesicht Großbritanniens wieder zum Vorschein kommt. Ich hoffe es zumindest.
Heute sehe ich in dieser übergroßen Wohnung, durch die ständig Leute wanderten, eine Fortsetzung der Zwanglosigkeit der Orte, an denen ich mit Gottfried gelebt habe: Leute blieben über Nacht oder übers Wochenende, Freunde, die Freunde von Freunden. Die »Boheme« der Genossen (inzwischen fast alle Exgenossen) war unendlich gastfreundlich, stellte keinerlei Ansprüche, nahm die Jugendkultur der sechziger Jahre vorweg. Alle möglichen jungen Dichter, vielversprechende Stückeschreiber, Romanciers, männliche und weibliche, kamen und gingen, alle bettelarm, von Hand zu Hand, von Stadt zu Stadt und manchmal sogar von Land zu Land weitergereicht.
Ein Beispiel, und zwar ein typisches, war Balwant, ein junger Inder, der über den British Council nach London kam. Er hatte kein Geld, stammte aus einem armen Dorf, hatte ein paar gute Theaterstücke über zeitlose Dorfthemen geschrieben: der boshafte Geldverleiher, die grausamen Eltern, die tapferen Liebenden, die notleidenden Dörfer. Sie waren in Indien aufgeführt worden. Joan Rodker, Tana Ship, Reuben Ships Exfrau, und ich kümmerten uns um ihn. »Meine drei Grazien« nannte er uns. Er saß da, lächelte wie ein liebes Kind, wackelte mit dem Kopf, auf philosophische Art wegen unserer Bemühungen um ihn bekümmert. Tana tippte seine Texte, Joan und ich fütterten ihn und beschafften ihm eine Unterkunft. Er war ein paar Jahre bei uns, dann verschwand er und wurde von einer Polin eingefangen und geheiratet, die ein Nein als Antwort nicht gelten ließ. Aber das ist eine andere Geschichte. Das Problem ist, dass, wenn man Romane schreibt, die Schreibmaschine immer danach trachtet, irgendeine Geschichte herunterzurattern.
Eine traurige Geschichte passierte, eine traurige Besucherin kam, ein schwarzes Mädchen, das wegen dieses inzwischen so vertrauten Anrufs aus der King Street erschien: »Ich habe gehört, Sie haben ein leeres Zimmer.«
»Ich vermiete keine Zimmer mehr, niemals wieder. Tut mir leid.«
»Es liegt bei Ihnen, wie Sie sich mit ihr arrangieren. Sie besucht ein College; sie wird den ganzen Tag außer Haus sein.«
Lucy war vielleicht zwanzig, so intelligent, dass sie in irgendeiner armen Missionsschule in Südrhodesien Aufsehen erregt hatte und mit einem Stipendium auf eine bessere Schule geschickt wurde, und jetzt war sie im mit Gold gepflasterten London, bei mir in einem kleinen Zimmer, wo grauer Regen gegen die Fenster prasselte und davor eine grauenhafte Straße lag, auf der Tag und Nacht große Laster vorbeidonnerten. Sie kam aus einer großen Familie, aus Sonne und Wärme und aus einer Kultur, die kein Verständnis für den Drang zum Alleinsein hatte. Sie war völlig verzweifelt vor Einsamkeit und Heimweh. Peter war gerade ins Internat gekommen, und ich hatte zum ersten Mal, anstatt meine Arbeit dazwischenschieben zu müssen, wann immer ich konnte, ein paar freie Wochen vor mir und beabsichtigte,
Sturmzeichen
fertig zu schreiben. Ich hatte mich allmählich in den trägen Unterwasserzustand hineingearbeitet, in dem äußere Ereignisse sehr weit entfernt zu sein scheinen, und war bereit anzufangen – und da lehnte sich dieses unglückliche Mädchen übers Treppengeländer und wartete darauf, dass meine Schreibmaschine verstummte. Es ist erstaunlich, wie wenig Zeit Studenten und Studentinnen bei ihren Seminaren und Vorlesungen verbringen. Sie schien nie mehr als fünf oder sechs Stunden am Tag Vorlesungen zu hören. Viele Tage ging sie überhaupt nicht aus dem Haus, und dann waren da die Wochenenden. Sie hatte keine Freunde. »Hör zu, Lucy, ich verbringe eine Menge Zeit damit, einfach herumzutrödeln, aus dem Fenster zu schauen, ein paar Minuten zu schlafen – begreifst du das nicht? So schreibe ich nun einmal.« Ihre großen, ängstlichen Augen sind starr auf mein Gesicht gerichtet: Sind das die Rassenvorurteile, vor denen man mich gewarnt hat? Versucht diese weiße Frau, mich mit Verachtung zu behandeln? Und ich denke: Oh Gott, ich hoffe, sie kommt nicht auf diese Idee.
Normalerweise pflegte ich aus meinem großen Zimmer in die Küche zu wandern, aus dem Küchenfenster zu schauen, zurückzuwandern – das ganze Erdgeschoss war mein Konzentrationsareal –, aber jetzt ging ich in das große Zimmer, machte die Tür hinter mir zu und nahm sogar eine Thermosflasche voll Tee mit hinein. Die ganze Zeit dachte ich an sie, wie sie oben
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