Schritte im Schatten (German Edition)
beschädigte und verdunkelte Großbritannien lag in einer anderen Zeit und konnte nur unter Mühen ins Bewusstsein zurückgeholt werden. Zehn Jahre hatten dazu ausgereicht, und schon jetzt war da eine Generation, die nicht wusste, was man meinte, wenn man von Trümmergrundstücken, rissigen Fassaden, schäbigen, ungestrichenen Gebäuden sprach, von Utility-Kleidung, fürchterlichem Essen, ungenießbarem Kaffee und Leuten, die schon um zehn zu Bett gingen. In den Cafés wimmelte es von jungen Leuten, die die Welt neu erschufen, es gab die ersten guten, billigen Restaurants, und die Kleidung war jugendlich und einfallsreich. Alle möglichen kleinen, erfreulichen Dinge passierten, die zehn Jahre zuvor noch undenkbar gewesen waren. So spielte zum Beispiel eine Band, die sich »Happy Wanderers« nannte, auf der Oxford Street traditionellen Jazz, was das Einkaufengehen zu einem Vergnügen machte. In frisch gestrichenen Straßen erschienen Blumenkästen und Kübel mit dekorativen Bäumchen. Heute ist man allgemein der Ansicht, dass das Wiedererstarken des vom Krieg verheerten Europa ein Wirtschaftswunder war, denn nicht nur Großbritannien erholte sich so rasch, sondern alle europäischen Länder, von denen viele in Trümmern gelegen hatten. Von Ruinen und Hunger zu Wohlstand in fünfzehn Jahren, sogar noch weniger, aber wir, die wir diese Zeit durchlebten, empfanden das als selbstverständlich und nahmen kaum Notiz davon, sodass wir ausdrücklich darauf hingewiesen werden mussten. Wie zum Beispiel von Eric Hobsbawn in seinem Buch
Das Zeitalter der Extreme
, das ich verwundert las und dachte: Weshalb ist uns eigentlich nicht bewusst geworden, wie gut es uns gegangen ist?
Wieder war eine neue Zeit angebrochen, und ihr dramatischstes Symbol war der russische Sputnik (das Wort bedeutet »Reisegefährte, Begleiter, Genosse«), denn er war die erste der technischen Erscheinungen am Himmel, und eine Menge Leute blieben die ganze Nacht auf, um einen Blick zu erhaschen, wie er über sie hinwegzog. Ich war auf dem Dach und hoffte, dass mir keine Wolken den Blick versperren würden. Ich habe ihn nicht gesehen. Aber was für eine Begeisterung, was für ein Gefühl, etwas erreicht zu haben, denn wir empfanden, dass dies ein Fortschritt für die gesamte Menschheit war. Die Amseln sangen. Aus irgendeinem Grund liebten die Amseln diese Gegend, und ihr Gesang beschwört in mir immer das Bild der Morgen- und Abenddämmerungen in der Langham Street herauf.
Das Dach war über eine tückische kleine Leiter zu erreichen. Ich nahm dort oben Sonnenbäder und benutzte den Schatten des Schornsteins, um der Hitze zu entgehen. Die Kurzgeschichte
Die Frau auf dem Dach
stammt aus dieser Zeit. Es war eine andere Welt, weil ich nicht die Einzige war, die von einem Dach Gebrauch machte; es gab Topfpflanzen, kleine Gärten und Liegestühle. In der Nähe der BBC wurde gebaut, und die großen gelben Maschinen ragten empor und schwangen himmelwärts, und die Männer, die die Maschinen bedienten, winkten und riefen uns Komplimente und Einladungen zu.
Der kleine Straßenmarkt bestand nur aus ein paar Ständen, aber von der BBC kamen Leute, um Gemüse einzukaufen. Die Geräusche vom Markt – Rufe, deren Bedeutung sich verflüchtigt hatte, sodass sie wie Schreie aus der Vergangenheit klangen, als die Straßen voll waren von Händlern und Trödlern – führten zu einer Geschichte, einem bloßen Hauch von einer Geschichte,
Ein Zimmer
, die daraus entstand, dass ich bei Tag auf meinem Bett lag, hinter den dunkelblauen Vorhängen aus dichter, weicher Baumwolle, die mich beim Befühlen daran erinnerten, dass wir jetzt derartiges Material kaufen konnten, was es vor Kurzem überhaupt noch nicht gegeben hatte, und … ich lag da im Halbdunkel, mit den Rufen von der Straße in den Ohren, ich versank in einen Traum und besuchte – oder bildete mir ein, dass ich es tat – dieses Zimmer, wie es in der grauenhaften, schäbigen, kalten Armut des Ersten Weltkriegs gewesen war.
Ich ging häufig ins Theater und kehrte oft allein zu Fuß zurück, aus der Shaftesbury Avenue, der St. Martin’s Lane, dem Haymarket, sogar vom Old Vic. Es waren Leute auf den Straßen, genug, um sich in Gesellschaft zu fühlen, obwohl es noch nicht so wie heute war, wo es auf den Straßen im Zentrum Londons von jungen Leuten nur so wimmelt, die noch lange nach Mitternacht ihr Leben genießen und nach Abenteuern Ausschau halten. Mir kam immer noch nicht der Gedanke, dass ich eigentlich
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