Schritte im Schatten (German Edition)
Angst haben sollte, wenn ich spätabends so allein dahinwanderte und gelegentlich für einen kurzen Wortwechsel stehen blieb. »Wo kommen Sie so spät noch her?«
»Ich habe Laurence Olivier gesehen in …«
»Ach, wirklich. Wie schön. Hat es Ihnen gefallen?«
Es war die Zeit, in der Joan Littlewood in Stratford East Theater machte. Ich habe dort Inszenierungen gesehen, die origineller, brillanter waren als alles, was ich bis dahin erlebt hatte: Inzwischen ist allgemein das Niveau der Inszenierungen gestiegen, was zum Teil ihr zu verdanken ist. Das Theater war fast immer leer, nur ein Dutzend bis zwanzig Zuschauer, alle von uns, Linke, die die weite Reise vom Zentrum Londons dorthin gemacht hatten. Joans Idee war es gewesen, Theater für die Arbeiter der Umgebung zu machen, aber sie kamen nicht. Joan war damals eine lärmende Kommunistin oder gab zumindest laute kommunistische Töne von sich. Mir fiel es nicht leicht, in ihr ein tatsächliches Parteimitglied zu sehen, und die Partei tat nicht mehr, als sie zu tolerieren.
Ein paar Jahre lang wusste lediglich eine Handvoll von uns, dass dies das außerordentlichste Theater in Großbritannien war, aber dann sah Kenneth Tynan ein paar Inszenierungen, berichtete den Lesern des
Observer
davon, und danach war die U-Bahn nach Stratford im Londoner East End voll von eleganten Londonern, und es wurde schwierig, eine Eintrittskarte zu bekommen.
Joan Littlewood ist nie die Anerkennung zuteil geworden, die sie verdiente. Das liegt zum Teil daran, dass sie die Mittelschicht verabscheute, die in Wirklichkeit ihre Anhängerschaft bildete. Sie konnte nicht damit aufhören, die Bourgeoisie, das Establishment, die BBC und die Theater im West End und ihr Publikum zu beleidigen. Das war für sie eine Notwendigkeit, ihr Stil, ihr Markenzeichen. Wenn sie im Fernsehen auftrat, ließ sie ein Taschentuch über die Rückenlehne ihres Stuhls fallen und bückte sich dann, um es wieder aufzuheben, sodass sie der Kamera ihren Hintern als Beleidigung darbot. Kindisch. Aber sie musste solche Dinge tun. Sie und ihre Truppe standen im Grunde in der Tradition der Wanderschauspieler, und sie hatte in Provinzstädten Theater gemacht, ohne Geld, ohne Ressourcen, politisches Theater, satirische, politische Moritaten, improvisiertes Theater.
Nelson Algren besuchte mich. Den Zeitungen und dem allgemeinen Klatsch zufolge war er wütend, weil er in
Die Mandarins von Paris
, Simone de Beauvoirs Roman über das Nachkriegs-Paris, als der ständig ausweichende amerikanische Liebhaber porträtiert worden war – wie aus dem Leben gegriffen. Aber das konnte eigentlich nicht stimmen, denn als Clancy, der sich immer das Air eines erfolgreichen Heiratsvermittlers gab, ihn in meine Wohnung mitbrachte, war Nelsons Lächeln ganz schüchterne sexuelle Willigkeit, wie ein sehr junger Bräutigam. Aber schließlich war ich Schriftstellerin und eine Linke – und damit doch bestimmt Gift. Aber dieses rätselhafte Gebräu enthielt noch eine andere Zutat. London faszinierte damals die Amerikaner auf eine Art, die es seit dem Ende der sechziger Jahre nicht wieder gegeben hat. Manchmal, wenn ich einem Amerikaner durch einen anderen als eine gute Sache präsentiert wurde: »Sie ist ein richtiger Mensch, verstehst du« – denn eine Frau konnte ebenso ein Mensch sein wie ein Mann –, dann hatte ich das Gefühl, eine Art Trophäe zu sein, ein wertvolles Stück Engländertum. Tatsache ist, dass Nelson im Grunde ebenso wenig scharf auf mich war wie ich auf ihn, aber wir mochten einander und verbrachten ein paar interessante Tage zusammen. Er erzählte von den Erfahrungen, die in
Der Mann mit dem goldenen Arm
und
Wildnis des Lebens
eingeflossen waren, und zwar so, dass es sich pikaresk und faszinierend anhörte. In London war er auf der Suche nach der Romantik der Armut, über die er schreiben wollte. Wo sind eure Slums?, wollte er wissen. Er fuhr mit Clancy ins East End, aber die alten Arbeitergemeinden waren verschwunden. Er kehrte enttäuscht zurück. Er hatte gehofft, die Slums aus Dickens’ London zu finden, genauso, wie noch heute Leute kommen, die hoffen, einen dicken Nebel, einen richtigen »pea-souper«, eine Londoner Spezialität, zu finden, und dann enttäuscht sind, wenn man sie über den Clean Air Act informiert. Ich erklärte Nelson, dass in sämtlichen Straßen dieser Gegend bitterarme Leute lebten, in schlechten Wohnungen oder sogar Häusern, aber dass die Armut in London oft verborgen sei; neben einem Haus
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