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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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mit gut situierten Leuten könne eines stehen, in dem sich arme Leute zusammendrängten. Er brauche nichts anderes zu tun, als ein bisschen herumzuwandern. Er tat es, konnte nicht verstehen, was er sah, also begleitete ich ihn. »Siehst du das Haus dort? Siehst du die kleine Straße da drüben?« Aber die Zeiten waren vorüber, in denen Menschen in Großbritannien verhungerten oder sich von Tee, abgetropftem Bratenfett, billiger Marmelade und Brot ernährten und Kinder barfuß laufen mussten. Er suchte nach dem dramatischen und unübersehbaren Elend bestimmter Slums in Amerika. Das Wohlwollen, das wir füreinander hegten, musste also eine sehr grundlegende Schwierigkeit überwinden. Inzwischen war ich zu der Überzeugung gelangt, dass die romantische Verklärung der Armut als Stil – denn das ist sie oft – überaus irritierend und kindisch war. Und sie geht ständig vor sich. Die Mittelschicht hat Elend immer geliebt –
La Bohème
zum Beispiel. Nelsons Romane waren vor allem anderen eine Verherrlichung der romantischen Seite der Armut, der Drogenkultur, der Prostitution. Um die gleiche Zeit jagten die erbärmlichen Townships in Südafrika, in denen wirklich grauenhafte Armut und Mangel herrschten, manchen Leuten einen wohligen Schauer über den Rücken: Wie aufregend, sich vorzustellen, dass in einem Slum wie der Township Alexandra nur Prostituierte mit einem goldenen Herzen leben, unverschämt stehlende Kinder mit nicht einer Sorge auf der Welt, Gassenjungen, singende und tanzende Vagabunden.
    Ich hatte eine Eingebung und schickte Nelson nach Glasgow, damals noch weit davon entfernt, jene attraktive Stadt zu sein, die es heute ist, wo die »Gorbals« alles waren, wonach er gesucht hatte. Sein Wunsch war in Erfüllung gegangen. Heutzutage würde er die Drogenkultur vorfinden und sich sofort zu Hause fühlen. Er hatte das leicht benommene, zurückhaltende, gedämpfte Wesen, das wir damals mit einer bestimmten Art von Amerikanern assoziierten, die Folge, wie wir glaubten, des Versuchs, sich einer überstarren Gesellschaft anzupassen, aber in seinem Fall waren es Drogen.
     
    Ich habe ein Problem. In der Warwick Road und in noch stärkerem Maße in der Langham Street lernte ich Unmengen von Leuten kennen, die wohlbekannt waren oder auf dem bestem Wege, es zu werden. Ich könnte mühelos eine Liste mit Namen aufstellen. Das wäre dann das Äquivalent dessen, was ich empfinde, wenn jemand zu mir sagt: »Ich habe einen guten Bekannten von dir getroffen.«
    »Ach, wen denn?« Aber ich kann mich an ihn oder sie nicht erinnern.
    »Aber er hat gesagt, er kennt dich sehr gut.« Mit dieser Person habe ich mich auf einer Party fünf Minuten unterhalten, oder sie wurde von jemandem in mein Haus mitgebracht, wo eine Menge Leute anwesend waren, und jetzt läuft er – oder sie – herum und erklärt: »Oh ja, ich bin ein guter Freund von ihr.« Man wird zu ihrem Besitztum, sie wissen alles über einen. »Sie hat mir erzählt, dass …«
    (Es sind exakt diese Leute, die sich nur allzu gerne erinnern, wenn Biografen herumschleichen.)
    Der entscheidende Punkt ist meiner Meinung nach der, dass damals viel mehr Leute der unterschiedlichsten Art zusammenkamen als heute. Das gesellschaftliche Leben war beweglicher. Das lag zum Teil an den Aldermaston-Märschen, wo die unwahrscheinlichsten Leute sich begegneten. Wenn ich eine Liste der Leute aufstellen würde, die ich auf diesen Märschen kennengelernt habe, dann wäre das eine Art Handbuch der progressiven Angehörigen der Gesellschaft. Gibt es heute ein Äquivalent dafür? Vermutlich nicht. Da waren noch immer dieser Nachkriegsüberschwang, das Gefühl, dass unterdrückte Energien explodierten, das Erscheinen von Talenten in der Kunst, die aus der Arbeiterklasse oder zumindest nicht aus der Mittelschicht stammten, und vor allem der politische Optimismus, der inzwischen gänzlich verflogen ist.
    Ich meine, den Aldermaston-Märschen ist nicht die Aufmerksamkeit zuteil geworden, die sie als einzigartiges soziales Phänomen eigentlich verdient hätten. Man überlege einmal: Ein halbes Dutzend Jahre lang versammelten sich jedes Jahr im Frühling Hunderttausende von Menschen aus ganz Großbritannien, vom europäischen Kontinent, aus Amerika und noch weiter entfernt liegenden Weltgegenden in Aldermaston und machten sich dann auf einen viertägigen Marsch nach London, verbrachten die Nächte in Schulen und irgendwelchen Sälen, wurden von den Orten, durch die sie kamen, willkommen

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