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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Dr. Schweitzer, der den europäischen Freuden demonstrativ den Rücken kehrt. In ganz Indien, so hat man mir erzählt, arbeiten Menschen unter unerträglichen Verhältnissen gegen die Armut, aber es braucht eine Mutter Teresa, damit unsere Augen sich mit Tränen füllen.
    Ein Ereignis fasst all dies für mich zusammen. Eine Gruppe von Theaterleuten, alles Linke, fuhr nach Deutschland, um das Brecht-Ensemble kennenzulernen und mit ihm zu arbeiten. Die Mauer stand inzwischen. Sie wurden von einer Frau begleitet, die als Kind aus Deutschland flüchten musste. Ihre Verwandten waren tot oder hatten unter Hitler gelitten; ihr ganzes Leben war erst von Hitler und danach von Stalin aus der Bahn geworfen worden. Es kam ein Moment, in dem die Theaterleute begriffen, dass diese unbedeutende Person, dieses Nichts von einem PR -Mädchen, die wahre Verkörperung der Tragödien Europas darstellte.
    »Sie sind nicht wieder in Deutschland gewesen, seit Sie es als Flüchtling verlassen haben?«
    »Nein, das ist das erste Mal. Ich hatte nicht das Geld dazu«, sagte sie. Die Gesichter ihrer Gegenüber, erzählte sie mir, seien erstarrt. Das war mehr, als sie verkraften konnten. Sie wussten nicht, wie sie auf die Wirklichkeit reagieren sollten, ein wirkliches Opfer, eine Überlebende. Und damit war die Sache erledigt; sie behandelten sie weiter wie zuvor, als nützliche Idiotin.
    Etwas Merkwürdiges passierte mir mit Lindsay Anderson. Wir hatten uns längere Zeit nicht gesehen, und er rief an und sagte, es sei dringend. Er und David Storey hatten seit einem Jahr an dem Drehbuch für
This Sporting Life
gearbeitet und sich festgefahren. Ob ich den Roman lesen und ihnen sagen könne, was ich davon hielte? Ich las den Roman über Nacht und rief am nächsten Morgen an, um zu sagen, dass ich ihn großartig fand. Lindsay kam mit drei dicken Schnellheftern – drei Drehbüchern. Er wollte nicht, dass ich ein eigenes Drehbuch schrieb; ich sollte die drei missratenen Drehbücher lesen und daraus ein neues zusammenschustern. Ich hätte eine Woche Zeit dafür. Ich war wütend; etwas Unprofessionelleres konnte ich mir kaum vorstellen. Wenn ich gewusst hätte, dass ich aus drei unbrauchbaren Drehbüchern eines machen sollte, hätte ich von Anfang an Nein gesagt. Und ich war enttäuscht, denn inzwischen hatte mich die Story gepackt. Aber niemand konnte lange auf Lindsay wütend sein. Er war ein liebenswerter Mensch, immer, sogar als er krank und alt und unvernünftig wurde, denn wie bei so vielen von uns traten auch bei ihm seine Schwächen mit zunehmendem Alter deutlicher zutage. Lindsay zu mögen war ein dorniges Geschäft. Er war einer jener Menschen, die zutiefst und auf nicht wiedergutzumachende Weise verletzt worden waren. Er sagte, es sei sein Internat gewesen. Er riss Witze darüber, aber Witze heilen keine Wunden.
    Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen wir uns trafen, stritten wir miteinander. Von all den Mode-Linken war er für mich der aufreizendste. Jede zweite Person, behauptete er, sei ein »sell-out«, ein Verräter. Wen oder was sollte er verraten haben? Niemand, und Lindsay schon gar nicht, vermochte das zu sagen. »Sell-out« war jahrelang ein Schlagwort. Es gibt Wörter, die dazu bestimmt sind, Denken zu verhindern, und »sell-out« gehört dazu. Ein anderes derartiges Wort ist »committed«, engagiert, damals sehr in Mode. Es charakterisiert jemanden, der dieselben politischen Ziele oder Aktionen befürwortet. Ein weiteres war »cause«, Sache, Anliegen. Es hat moralinsaure Obertöne, denn eine »Sache« war per definitionem gut. »Fascist« ist erst vor relativ kurzer Zeit in der Versenkung verschwunden. Ein Faschist war jeder, der auch nur vage zur Rechten tendierte.
    Es gab Dutzende von Schlagworten aus der Sowjetunion. Eine Zeit lang waren Edward Thompson, John Saville und wir anderen »Revisionisten«, was bedeutete, dass wir Abweichler von der Parteilinie darstellten und als Leute galten, die versucht hatten, die Parteilinie zu verändern, die sich als einzig korrekte begriff. »Korrekt« – ein weiteres ihrer Wörter.
    Mir gefiel der Film
This Sporting Life
[33] , als er herauskam. Ich fand aber, dass er nicht genug aus dem Stolz auf den eigenen Körper der Männer aus der Arbeiterklasse machte, die sich selbst auf dem Gipfelpunkt ihres Lebens wähnen, aber nichts als einen Abstieg in graue Gewöhnlichkeit vor sich haben.
     
    Reuben Ship war zu der Zeit mit Elaine Grand verheiratet. Sie war das »glamour girl« in der

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