Schritte im Schatten (German Edition)
mit den Worten in einer Sprechblase über meinem Kopf, sagen würde: »So seltsam das auch erscheinen mag, ich habe es erfunden …«
Oder um das den Roman strukturierende Prinzip
theoretischer
gefasst ins Spiel zu bringen – weil der Roman als Idee im Sterben liegt, weil wir alle ganz verrückt nach
Informationen
sind, weil wir irrtümlicherweise glauben, unsere Rettung bestünde in mehr Wissen über verschiedene Aspekte unserer fragmentierten Welt. Niemand, buchstäblich niemand, nicht einmal die Literaten, die Leute, die sich eigentlich für Romane als Romane interessieren sollten, liest ein Buch so, wie es gelesen werden sollte; Leute lesen
Das goldene Notizbuch
, wie sie eine Autobiografie lesen. Erstaunlich. Dies ist wahrlich das Zeitalter des Journalismus.
Mein lieber Edward, das war ein überaus
konstruiertes
Buch, in dem es um das Verhältnis seiner Teile zueinander ging. Es war ein Roman über die Art von intellektuellen und emotionalen Einstellungen, die heute produziert werden, die die Leute heute haben, und ihre Beziehungen zueinander.
Nenne das Subjektivismus, und Du gibst zu, dass Du das Buch nicht gelesen hast.
…
Alles Liebe Euch beiden, lass uns Freunde sein und komm und besuch mich.
Ich habe mich gefreut, Deinen Freund Tom kennenzulernen. Er war nett.
Mit herzlichen Grüßen
Doris
Es führt ein überaus seltsames Leben, das
Goldene Notizbuch
.
Ich begegne Frauen, die sagen: »Ich habe
Das goldene Notizbuch
in den Sechzigern gelesen. Es hat mein Leben verändert. Meine Tochter hat es gelesen und jetzt meine Enkelin.«
Diese Sache, dass ein Buch das Leben eines Menschen verändert. Das kann nur bedeuten, dass jemand bereit ist, sich zu ändern, und das Buch das Zünglein an der Waage ist.
In Rio saß ich einmal vor meinem Hotel auf dem Gehsteig, wie man das in südlichen Gegenden oft tut. Junge Frauen aus den
favelas
kommen hierher und lassen sich nieder, manchmal den ganzen Tag bei einer einzigen Tasse Kaffee oder einem Glas Obstsaft, denn für den Preis eines anständigen Kleides sind sie für eine Weile – eine Woche oder so – aus Elend und Armut heraus. Die Kellner tolerieren sie und drücken ein Auge zu, wenn sie – nicht sehr oft – einen Kunden finden. Zu viele junge Frauen, nicht genügend Kunden. Zwei von ihnen saßen an einem Nebentisch, und eine rief herüber: »Meine Freundin möchte Ihnen etwas sagen. Sie spricht nicht Englisch. Sie liebt Sie.« Aber nein, was sie mir sagen wollte, war, dass sie
Das goldene Notizbuch
liebte. Wie hat das Buch seinen Weg in eines der schlimmsten Slumgebiete der Welt gefunden? Ich war unendlich gerührt, dankbar.
In China ist das Buch zweimal gedruckt worden, in Auflagen von achtzigtausend, klein für China mit seiner gewaltigen Einwohnerzahl, riesig für uns. Beide Male war es binnen weniger Tage ausverkauft, an Frauen, denn auch dort ist es ein Frauenbuch. Das Leben der Frauen ist dort so hart, dass ich glücklich bin, wenn das Buch ihnen von Nutzen ist, einerlei, um was es in diesem Buch »eigentlich« geht.
Aber das ist China. Ich erhebe Einspruch, wenn die Feministinnen in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien mein Buch zu ihrem Eigentum erklären, denn in anderen Briefen, die ich gleichfalls häufig bekomme, steht: »An der Universität habe ich Sie nicht gelesen, weil die Feministinnen ›Zutritt verboten‹ sagten. Aber dann habe ich eines Ihrer Bücher gelesen und festgestellt, dass sie nicht nur für Frauen sind.«
Und auf diese Weise ist dieses umstrittene Buch, das Verleger und Rezensenten dermaßen aufgebracht hat, jetzt, vierzig Jahre später, zu einer Art Klassiker geworden und wird akzeptiert. Neulich kam ich mit Sechzehnjährigen von einer Londoner Schule zusammen, die mir erzählten, ihre Lehrerin habe gesagt, sie müssten
Das goldene Notizbuch
lesen. »Es ist großartig«, sagten sie.
Und eine andere junge Frau, aus Osteuropa, erklärte mir, nachdem ich irgendeinen Vortrag gehalten hatte, sie und ihre Freundinnen läsen
Das goldene Notizbuch
und: »Es ist faszinierend, über diese alten Zeiten zu lesen.«
Manchmal höre ich, dass das Buch Pflichtlektüre in Geschichts- oder Politikseminaren ist, und das freut mich, denn schließlich war das der Punkt, an dem alles begann – ich wollte eine Chronik der Zeit schreiben. Und das ist genau das, was dem Buch, wenn es Bestand haben sollte, seinen Wert verleiht. Denn ich glaube, ganz gleich, wie weit es mir gelungen oder misslungen ist, dass es ein
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