Schritte im Schatten (German Edition)
ehrlicher, wahrheitsgemäßer und verlässlicher Bericht darüber ist, wie wir alle zu jener Zeit waren. Jetzt könnte es nicht geschrieben werden, weil ein Roman aus einer Grundsubstanz von Atmosphäre, Gefühl oder Denken hervorgehen muss, und heute scheint das alles so weit zurückzuliegen, und man kann nur schwer glauben, dass es »diese alten Zeiten« überhaupt gegeben hat.
Und jetzt das bizarrste der vielen Leben des
Goldenen Notizbuchs
. Es wurde zu einem Text für Vertreter poststrukturalistischer Literaturtheorie. Dieses Buch, aus so viel Blut, Schweiß und vor allem Tränen geboren, ein intellektuelles Spielchen? Es ist zum Lachen. Was soll man dazu sagen?
Das Schreiben des
Goldenen Notizbuchs
veränderte mich. Das Schreiben jedes Buches bewirkt Veränderungen; das muss so sein, wenn man genauer darüber nachdenkt. Auf der untersten Ebene scheinen, wenn man angestrengt über ein Thema nachdenkt, Informationen und Einblicke in dieses Thema von überall her zu kommen: Bücher tauchen auf, man hört darüber im Radio, in Unterhaltungen und im Fernsehen. Das ist eine Tatsache, sie entspricht der Wahrheit, man kann sich darauf verlassen – und dafür gibt es keine wissenschaftliche Erklärung. Jedenfalls noch nicht. Aber ich rede nicht über diese Art von schneller Informationsbeschaffung. Das Schreiben dieses Romans änderte meine Art zu denken und darüber hinaus etwas noch Fundamentaleres als mein Denken. Als ich mit der Arbeit begann, hatte ich zwar den Kommunismus hinausbefördert, aber sämtliche Denkschablonen des Kommunismus existierten noch. Diese Denkschablonen waren nicht nur Kommunisten und Exkommunisten eigen, sondern auch in den Besitz von Leuten übergegangen, die nie Kommunisten oder auch nur Sozialisten gewesen waren. Noch bevor die fünfziger Jahre zu Ende gegangen waren, las ich Leitartikel in der »kapitalistischen Presse«, makellos konservative Artikel, die sich des kommunistischen Jargons bedienten: konkrete Schritte, Widersprüche, Demos, die wechselseitige Durchdringung von Gegensätzen, der Klassenkampf und all das andere. Wir beobachteten diesen sich ständig wiederholenden Prozess, bei dem sich die Denkweisen einer ausgeschlossenen oder sogar geächteten Minderheit allmählich in alle Richtungen ausbreiteten, bis sie zu einem Teil des »Meinungsklimas« geworden sind.
Seit ein paar Jahrzehnten gibt es etwas, das ich »das Paket« nenne, das allgemeingültige, »modische Paket«, das als das einzig Mögliche zu akzeptieren allen jungen Leuten beigebracht worden ist, die unser westliches Erziehungssystem absolviert haben. Das gilt heute in geringerem Maße als früher, da das »Paket« von Erfahrungshorizonten gesellschaftlich nicht akzeptierter Minderheiten beeinflusst wird. Da ist erstens der Marxismus, eine der siebenundfünfzig Spielarten des Marxismus, und das sogar dann, wenn er nicht als Marxismus erkannt wird. Dann die Überzeugung, dass es der menschlichen Gesellschaft vorherbestimmt ist, sich in jeder Hinsicht zu verbessern, insbesondere materiell; immer mehr materieller Wohlstand in jedermanns Zukunft – es wird immer mehr Autos, Kühlschränke, Komfort, Sicherheit geben, eine sich ständig aufwärtsbewegende Rolltreppe, auf der alle Menschen der Welt stehen. (Aber das hat an Überzeugungskraft verloren.) Das ist Materialismus, »ein Huhn in jedem Topf«. Ein Huhn in
jedem
Topf, überall – aber das ist so unerreichbar wie eh und je. Und schließlich der größte Gegenstand in dem »Paket«, der philosophische Materialismus, der »Gott-ist-tot-Wissenschaft-ist-König«-Materialismus.
Jeder, der sich nicht dieser letzten Ansicht anschließt – denn sie ist so stark wie eh und je –, gilt als schwachsinnig und feige. Es ist mit einem Hohnlächeln, heimlich oder offensichtlich, verbunden, wenn jemand sagt: »Ich kann Leute nicht verstehen, die an Gott glauben.« Vielleicht sagen sie sogar: »Ungebildete Leute, ja.« Für sie ist Gott zu einer Art Versicherungspolice gegen die Schrecken der Ewigkeit all jener Leute geworden, die den Gedanken an den Tod nicht ertragen können. Dennoch scheinen diese Leute, die sich mit dieser Art von Verachtung aufblasen, nie zu bedenken, dass viele dieser Leute, die an Gott glauben, nicht nur an das Feuer der Hölle und alle Arten von qualvoller Verdammnis glauben, sondern auch an das Paradies. Die Moslems zum Beispiel und bestimmte extreme christliche Sekten. Sollte man darin nicht viel mehr Mut als Feigheit sehen? Es ist ein
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