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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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uns hatte die Inszenierung bereits den Charme von etwas Vergangenem, denn sie war so realistisch, dass man buchstäblich die Blätter an den Bäumen zählen konnte. In dieser Oper kämpft der Held, ein Bauer, ein Mann aus dem Volke, gegen die Feinde von Mütterchen Russland. Einige Zuschauer weinten leise während der gesamten Vorstellung, und von allen Eindrücken im Verlauf dieser hektischen vierzehn Tage war es dieser Theaterabend, der den Großen Vaterländischen Krieg und das, was er für diese Leute bedeutet hatte, unmittelbar zum Herzen sprechend uns nahebrachte.
    Ich erinnere mich an einen Abend in der Wohnung von Frank Johnson in Moskau. Alle ausländischen Besucher pflegten diese Wohnung aufzusuchen. Er machte aus seinen Sympathien für die Sowjetunion kein Hehl, und allem Anschein nach hat er zeit seines Lebens dem KGB angehört. Er war ein liebenswürdiger Mann, seine Frau eine russische Schönheit. Hier hörte ich von den Russen, einschließlich ihrer Person, Bemerkungen wie: »Ich hasse Schwarze«, und wie von jeder weißen Madam im südlichen Afrika: »Ich würde nicht aus einem Glas trinken, das ein schwarzer Mann benutzt hat. Ich würde es vorher desinfizieren.« Auch hatten die russischen Unterhaltungen über die nicht russischen Republiken wie Georgien, Usbekistan und die baltischen Staaten fatale Ähnlichkeit mit dem, was ich von Weißen im südlichen Afrika zu hören gewohnt war: »Ohne uns wären sie überhaupt nichts.« – »Sie sind auf uns angewiesen.« – »Sie sind sehr rückständig.« – »Ich finde nicht, dass wir sie nach Russland hereinlassen sollten.«
    Als wir am Tag unserer Abreise nachts zum Flughafen zurückgefahren wurden, passierte dies: Oksana, Arnold und ich saßen hinten, während Douglas Young neben dem Chauffeur Platz genommen hatte. Ein Mann torkelte auf einer halbdunklen Straße in die Scheinwerfer. Der Wagen wich aus, traf ihn aber trotzdem. Wir sprangen alle aus dem Wagen. Ein Bauer lag – blutend und alle viere von sich gestreckt – auf der Straße. Er war sehr betrunken. Oksana verwandelte sich in einen Racheengel und verlangte, wir sollten ihn zur Strafe auf der Straße liegen lassen. Wir bestanden darauf, ihn in den Wagen zu holen, wo er dann schließlich in Arnolds Armen lag, benommen, stammelnd, blutend. Arnold weinte und wiegte ihn mit leidenschaftlicher Beschützergeste. Es war die gesamte Sowjetunion, die er in seinen Armen hielt, die Millionen Toten, die Frauen ohne Männer, die vom Krieg zerstörten Straßen, die einem das Herz schwermachten. Ich wusste, dass es das war, was er empfand, denn ich fühlte es auch. Oksana hörte auf dem ganzen Weg zum Flughafen nicht mit ihren schrillen Beschimpfungen auf. »Wie kannst du so etwas wagen, das sind vornehme ausländische Besucher, wie kannst du unser großes Land so beleidigen, du wirst dafür bestraft werden, du solltest dich schämen.« Douglas Young übersetzte mit ironischer Stimme. Dies war die bizarrste aller Szenen auf unserer Reise, eine Art Zusammenfassung und Karikatur zugleich – der betrunkene, blutende Mann, die keifende Sowjetbürgerin, Arnolds Weinen, Douglas’ schottische Stimme, bewusst übertrieben, voller Bitterkeit, voller Zorn, eine Anklage, und ich, die Oksana unterbrach: »Aber Sie werden ihn doch in ein Krankenhaus bringen, wenn wir am Flughafen angekommen sind? Versprechen Sie das? Das werden Sie doch tun, oder?«
    Am Flughafen erwartete uns Boris Polewoi, der auf seinem Motorrad gekommen war, um sich von uns zu verabschieden, ganz der lächelnde und gute Kamerad. Netter Mensch, der er war, versprach er uns, dafür zu sorgen, dass der Betrunkene in ein Krankenhaus gebracht wurde. »Wer’s glaubt«, war unser aller Ansicht. »Er hat Glück, wenn er nicht erschossen wird«, sagte Douglas, und Arnold widersprach ihm nicht.
    Wir waren alle froh, abreisen zu können.
    Wir unterbrachen unsere Rückreise für zwei Tage in Prag, um das Filmfestival in Karlovy Vary (Karlsbad) zu besuchen und eine Gemäldegalerie. Ich erinnere mich an sehr wenig von der Tschechoslowakei, vermutlich, weil ich völlig erschöpft war, aber eine Szene ist mir im Gedächtnis geblieben: Wir sechs schlenderten durch die Galerie, ich blieb allein in einem Raum zurück, um ein Bild zu betrachten, das mir gefiel. Da trat der Wärter zu mir und flüsterte: »Ich liebe Sie. Ich muss Sie heiraten. Nehmen Sie mich mit nach England.« Er war verzweifelt, er flehte, umklammerte meinen Arm und sagte: »Bitte, bitte,

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