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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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sagen Sie ihnen, dass Sie mich lieben, nehmen Sie mich mit.« Und dann kam die Dolmetscherin, um ihre Schutzbefohlene zu holen, die sich auf so gefährliche Weise von ihrer Herde entfernt hatte, und der kleine Wärter – er war alt, jedenfalls kam er mir damals so vor, mager, traurig, mit gequälten dunklen Augen – zeigte schnell auf ein Gemälde, als wäre er gerade dabei, es mir zu erklären. Seine Augen folgten mir, als ich hinausging. Da verschwand seine Chance auf ein Entkommen aus seinem Leben, unerträglich geworden aus einem Grund, den ich nie erfahren werde. Als ich später Jack davon erzählte, sagte er mit dieser Mischung aus Bitterkeit, Schmerz und Wut, die so bezeichnend für ihn war: »Armes Schwein, armes, kleines Schwein«, und dann: »Weshalb heiratest du ihn nicht? Aber bilde dir nicht ein, dass du ihn schnell wieder loswerden würdest.« Jack hatte in der Tschechoslowakei eine Frau in einem von der Partei organisierten Programm geheiratet, um sie vor den Nazis zu retten, aber hinterher, als er sich wieder scheiden lassen wollte, machte sie Schwierigkeiten. Schließlich willigte sie ein, sich mit ihm zu treffen, und er machte ihr Vorwürfe. »Ich habe dir einen Gefallen erwiesen, und jetzt machst du mir so viel Ärger.« Sie sagte zu ihm, voller Bitterkeit: »Aber du hast mich nach der Trauung nicht einmal zum Essen eingeladen. Das verzeihe ich dir nie.«
    »Man stelle sich das vor«, sagte Jack. »Wenn ich ihr eine Rose oder einen Blumenstrauß geschenkt hätte, wäre mir der ganze Ärger erspart geblieben.« Er spielte damit auf eine berühmte Geschichte aus der Frühzeit der Sowjetunion an. Gefühle bei Trauungen waren verboten, und das Paar sah sich auf dem Standesamt einem bloß bürokratischen Vorgang ausgesetzt. Trotz ihrer Loyalität gegenüber den sowjetischen Prinzipien waren die Leute trübe und traurig, kamen sich beraubt vor. Schenkte ihnen jemand Blumen, eine herausfordernde Geste, fühlten sich alle wohler.
    Sobald wir in London ankamen, wurden wir sechs wieder zu einer Einheit, und zwar wegen der Pressekonferenz. Es ist praktisch unmöglich, die bissige, hasserfüllte Atmosphäre des Kalten Krieges wieder erstehen zu lassen. Wir wurden mit Journalisten konfrontiert, die uns so sehr hassten, dass es ihnen kaum gelang, höflich zu bleiben. Sie verlangten, von uns »die Wahrheit« zu hören. Die unvermeidliche Reaktion unsererseits darauf war, dass wir verteidigten, was wir verteidigen konnten, auch Naomi und Douglas. Wenn sie uns hassten, so hassten wir sie auch. Das war keineswegs das einzige Mal in meinem Leben, dass ich das Gefühl hatte, dass Journalisten sich selbst der schlimmste Feind sein können.
    Nach dieser Reise lehnte ich alle Einladungen ab, Friedens- oder kulturellen Delegationen anzugehören – dies war der Beginn einer Ära, in der alle möglichen Delegationen in alle möglichen kommunistischen Länder reisten. Ich erinnere mich an Einladungen nach China, Chile, Kuba und andere Länder. Schriftsteller, von denen man glaubte, dass sie dem Kommunismus wohlwollend oder zumindest nicht feindlich gesinnt waren, wurden ständig eingeladen. Das Problem ist nicht, dass man auf die offizielle Parteilinie hereinfällt, sondern dass man die Leute mag, die man kennenlernt, in Gedanken mit ihnen fühlt, sich mit ihren Leiden identifiziert. Das muss eine Variante dessen sein, was passiert, wenn Terroristen Geiseln nehmen, die durch den Druck der Ereignisse eins werden mit ihren Geiselnehmern. Die kommunistischen Regierungen haben immer das Prestige ihrer Besucher zu dem Versuch missbraucht, ihre unterdrückten Völker zu beeindrucken. Aber besagte Völker waren in Wirklichkeit zu klug, um sich beeindrucken zu lassen. Debatten darüber, ob man als offizieller Besucher in totalitäre Länder reisen sollte oder nicht, waren damals an der Tagesordnung, und sie sind es noch heute. Als ich 1993 für den British Council nach China reiste, zusammen mit Margaret Drabble und Michael Holroyd, traten westliche, im Fernen Osten arbeitende Journalisten an mich heran und sagten, es sei falsch, dorthin zu reisen. Aber ein paar Chinesen in London, darunter auch einer, der auf dem Platz des Himmlischen Friedens gewesen war, verstanden mich nicht, wenn ich fragte, ob ich reisen sollte. »Weshalb sollten Sie nicht hinfahren?«
    »Weil die Leute denken werden, wir bewunderten die chinesische Regierung.«
    »Niemand wird das denken. Aber für die Schriftsteller und Intellektuellen ist es wichtig,

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