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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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verschlagen hätte? Stattdessen war sie ein getretenes Geschöpf und zugleich eine willige Komplizin ihrer Ausbeutung. Sie arbeitete für eine Firma, die uns doppelt so viel berechnete, wie man ihr ausbezahlte. Es war völlig sinnlos, ihr zu sagen, dass sie, wenn sie auf eigene Rechnung arbeitete, das Doppelte verdienen würde. »Sie sind gut zu mir gewesen«, pflegte sie zu seufzen. Ihr Ehemann war ein Versager, den sie oft mit unterhalten musste. Sie liebte ihn. Meine kleine Erzählung
He
ist von ihrem Schicksal inspiriert. Wenn sie nicht gerade liebevoll von ihrem Ehemann und freundlich von ihrem Arbeitgeber sprach, dann redete sie über 10  Rillington Place, ganz in der Nähe, das der Schauplatz grauenhafter Morde gewesen war.
    Man hatte sie zum Arbeiten dorthin geschickt, aber sie war nicht für geeignet befunden worden. »Das hätte ich sein können«, pflegte sie sich zu »beklagen«, während sie aus ihrer Handtasche neue Zeitungsausschnitte über die Morde zog. »Ich hätte diese Leiche sein können, die man dort gefunden hat, meinen Sie nicht auch?«

Wie wir dachten: Der Zeitgeist
    Vor allem der National Health Service, der Wohlfahrtsstaat. Was für ein Stolz darauf, was für ein Glücksgefühl – und welche Zuversicht! Das Beste daran waren immer noch die jungen Ärzte, die Gruppenpraxen eröffneten. Die meisten, aber nicht alle waren Sozialisten verschiedener Couleur. Erinnerungen an die dreißiger Jahre lagen nahe, dokumentiert in
Die Sterne blicken herab, Die Zitadelle
und
Love on the Dole
, Romane, die jedermann gelesen hatte. Die Krankheit eines Angehörigen konnte für ganze Familien eine Katastrophe bedeuten. Diese grauenhafte Armut in den dreißiger Jahren, diese grausame Gleichgültigkeit der herrschenden Klasse gegenüber dem Leiden – aber jetzt gab es den Wohlfahrtsstaat. Renten bedeuteten, dass das Alter keine Bedrohung mehr war. (Vierzig Jahre später konnte eine Regierung rundheraus erklären: Das können wir uns nicht mehr leisten – und die Beihilfe kürzen, von der die Leute stets angenommen hatten, sie hätten für diese ihre Beiträge eingezahlt. Ist jemals jemand auf die Idee gekommen, eine Regierung zu verklagen, die ihre Versprechungen nicht hält? Und die vielleicht noch wichtigere Frage: In welcher Geistesverfassung müssen wir gewesen sein, um den Versprechungen der Regierung zu trauen? Die Antwort darauf ist einfach: in einer romantischen, utopischen, idealistischen Stimmung, in der alles Gute möglich schien.) Niemand brauchte mehr stempeln zu gehen, und auch der Means Test war verschwunden, die Ermittlung der Besitztümer, die bedeuten konnte – und es oft auch tat –, dass einer armen, ins Unglück geratenen Person jegliche Hilfe verweigert wurde. Ich kannte eine – inzwischen alt gewordene – Frau, die mir erzählte, dass sie tagelang nichts anderes zu essen hatte als altes, von einem Bäcker erbetteltes Brot; die Offiziellen von Means Test verweigerten ihr die Unterstützung, weil sie den Teppich auf ihrem Fußboden nicht verkauft hatte. Heute erinnert sich niemand mehr an den bitteren Groll, den schon das bloße Wort »Means Test« auslösen konnte.
     
    Die Erforschung der öffentlichen Meinung, vor allem während des Krieges, war neu. Die Soziologie entstand, die Fähigkeit, unsere Gesellschaft, unser eigenes Verhalten so zu betrachten, wie ein Geschöpf von einem anderen Stern sie sehen würde. Heute scheint mir das eine sehr wichtige Sache zu sein, aber damals war es der Wohlfahrtsstaat, der unser Denken als Bürger bestimmte.
     
    Harry Pollitt, der Generalsekretär und Anführer der britischen Kommunistischen Partei, steht vor Pontings, einem Geschäft in der Kensington High Street. Verglichen mit dem heutigen Überfluss in den Läden, war es sehr bescheiden; verglichen mit den damaligen Kaufhäusern wie Harrods oder Selfridges, war es ein Dorfladen. Er hob die geballte Faust und schüttelte sie, dann senkte er sie wieder und streckte einen anklagenden Finger aus: »Wenn wir an die Macht kommen, werden wir das alles niederreißen.« Womit er diesen ekelhaften Luxus meinte. So viel zu dem Thema, dass die Kommunistische Partei das Ohr am Herzen der Massen hatte, die jetzt, wo die Kleiderrationierung aufgehoben worden war, von nichts anderem träumten als von ein bisschen Eleganz und Mode. Die Anekdote veranschaulicht einen für das britische Denken charakteristischen Zug. Es ist zutiefst puritanisch, geprägt von Hass auf jede Art von Vergnügen, der

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