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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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beiden Seiten geführt. Ich lese ihm vor, wir spielen Brettspiele. Er hört Radio, begeistert, sowohl Hörspiele für Erwachsene als auch Kinderprogramme. Abendessen. Wenn Joan oder Ernest zu Hause sind, geht er zu ihnen hinunter. Um acht wird er ins Bett gesteckt, aber er ist nie ein Vielschläfer gewesen und liegt bis neun oder noch länger wach. In der Zwischenzeit kommt Jack. Wir essen. Wir unterhalten uns. Jack arbeitet sehr hart im Maudsley Hospital. Das ist das führende psychiatrische Krankenhaus in Großbritannien, und es ist die Zeit der Aufbrüche und der Entdeckungen. Viele der psychiatrischen Überzeugungen und Praktiken, die wir heute für selbstverständlich halten, wurden damals entwickelt. Jack war die Art von Arzt, die es heute vermutlich nicht mehr gibt. Er veranschaulichte die Theorien und Praktiken von Maudsley oder die Erlebnisse mit Patienten durch Vergleiche aus der Musik, über die er sehr viel wusste, oder aus dem Leben von Komponisten oder Szenen aus der Literatur. Ein armer Mann aus dem Londoner East End wurde mit einem Charakter aus einem Roman von Dostojewski verglichen, ein geistesgestörtes Mädchen mit einer Operngestalt. Er litt mit seinen Patienten. Er hatte oft schwere Bedenken gegen die Experimente, die durchgeführt wurden. Er beschrieb mir zum Beispiel Experimente mit Hypnose. Wenn man jemanden nahm – irgendjemanden –, ihn hypnotisierte und ihn dann aufforderte zu sagen, was zum Beispiel am 2 . Mai in einem weit zurückliegenden Jahr passiert war, als dieser Mensch zehn oder zwanzig Jahre alt war, dann lieferte dieser einen kompletten Bericht über besagten Tag. »Beim Aufwachen war ich schlecht gelaunt, ich hatte einen Streit mit meinem Mann, ich ging einkaufen, ich habe gekocht« – und so weiter. Alles ist irgendwo im Gedächtnis gespeichert. Was wir Erinnerung nennen, ist nur ein winziger Bruchteil dessen, was sich in unserem Gehirn befindet, und es ist nicht schwierig, es sich als eine Art Überlauf aus der tatsächlich vollständig vorhandenen Vergangenheit vorzustellen. »Welches Recht haben wir, auf diese Weise in das Denken eines anderen Menschen einzudringen?« Er erzählte mir, wie er eine Reihe zufällig ausgewählter Leute vor sich hatte und dann an der Reihe entlangschritt und mit den Fingern schnippte und – »Sie sind draußen! Einfach so! Man kann mit ihnen machen, was man will. Kein Mensch sollte so behandelt werden.« Er sagte ständig, dass kein Mensch so oder so behandelt werden sollte. Er mag Kommunist und vormals Stalinist gewesen sein, war immer noch, wie er erklärte, Marxist, im Grunde aber war er ein altmodischer Humanist, und das galt für alle Kommunisten, denen die literarische Tradition in Fleisch und Blut übergegangen war.
    Und dann gingen wir ins Bett. Die Dunkelheit und Liebe.
    Am Morgen war er oft schon fort, wenn das Kind aufwachte. »Ich muss mir zu Hause ein sauberes Hemd holen«, war die stehende Redensart.
    »Du könntest deine sauberen Hemden auch hier aufbewahren.«
    »Na, hör mal, weshalb solltest du dich um meine Hemden kümmern?«
    Wortwechsel dieser Art, archetypisch (Jung) zwischen Mann und Geliebter, waren, in dieser oder jener Form, während der ganzen vier Jahre, die wir zusammen waren, an der Tagesordnung.
    Das also ist der Abriss eines Tages. In nichts von alledem steckt die Wahrheit über den Prozess des Schreibens. Der nützlichste Begriff ist vielleicht »die Gedanken schweifen lassen«. Und das geht vor sich, während man einkauft, kocht oder sonst etwas tut. Man liest, stellt aber fest, dass das Buch herabgesunken ist: Man lässt die Gedanken schweifen. Die schöpferische Dunkelheit. Nicht vermittelbar. Und was ist mit den Seiten, die ausrangiert und weggeworfen wurden, den Geschichten, die missraten sind – in den Papierkorb –, den Ideen, die einen Tag oder zwei oder eine Woche existierten, aber kein wirkliches Leben haben? – also fort mit ihnen. Was für ein Leben ist das, weshalb ist das Geschriebene einer Seite lebendig und das einer anderen nicht, was ist diese Lebendigkeit überhaupt – ein Leben, das aus großen Tiefen, außer Sichtweite, geboren und von Liebe genährt wird? Aber einen Tag so zu beschreiben: Ich stand auf, das Kind ging zur Schule, ich schrieb, es kam zurück, und am nächsten Tag war es genauso – das ist kaum der Stoff, der den Leser zum Lesen bringt.
    Ich glaube, das wahre Leben eines Schriftstellers kann nur ein Schriftsteller verstehen. Und vielleicht noch ein paar

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