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Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amity Gaige
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mit den Schultern.
    »Na ja«, sagte ich. »Über hundert Ecken.«

PAPA
    In Dorchester musste ich einstecken. Ständig und immer. Die schwarzen Kinder waren größtenteils anständig zu mir, und sei es dadurch, dass sie meinen verletzbaren Blicken den Rücken kehrten, als wäre ich gar nicht da. Die irisch-amerikanischen Prinzen aber, die genauso aussahen wie ich und genauso lebten wie ich, in ihren altersschwachen dreistöckigen Mietshäusern, suchten nach einem Prügelknaben. Sie tricksten mich aus, schubsten mich und schlugen mich, waren aber nie so brutal, dass ich einen von ihnen als Feind erkennen konnte. Sie machten sich über meinen deutschen Akzent lustig, nachdem ich hätte schwören können, dass ich ihn abgelegt hatte. Einmal, im betonierten Abflussgraben, den wir nach der Schule als Abkürzung benutzten, forderte mich ein Junge zum Kampf heraus, der nicht größer und nicht stärker war als ich. Diesen Jungen hatte ich nie als Feind wahrgenommen. Morgens auf den Stufen vor der Schule verglichen wir sogar oft unsere Hausaufgaben – also staunte ich nicht schlecht, als er die Fäuste ballte und anfing, von einem Fuß auf den anderen zu hüpfen.
    »Komm her, Schroder«, sagte er nervös.
    Ich war verwirrt. »Und dann?«
    »Komm her und kämpfe. Kämpfe!«
    »Warum?«
    »Einfach so! Darum!«
    Ich hätte mich mit ihm prügeln können. Wahrscheinlich hätte ich sogar gewonnen. Ein Sieg hätte etwas Abhilfe geschaffen gegen die Schikanen und die ungezügelte Fremdenfeindlichkeit, die mich jeden Tag umgaben, das war mir klar. Aber ich ließ mich nicht auf einen Kampf mit ihm ein. Ich hatte immer nur Flüchten gelernt. Irgendwo in einem Maschendrahtzaun entdeckte ich ein Schwingtürchen, und ich rannte hindurch und knallte meinem Verfolger das Türchen entgegen.
    Ich rannte. Ich rannte sehr, sehr lange. Ich rannte nach einem hysterischen Muster, das willkürlich genug war, um einen zurechnungsfähigen Menschen abzuschütteln. Ich raste durch Unkraut, vorbei an kaputten Dreirädern und durch die ungepflasterten Hinterhöfe von Dorchester, ohne mich ein einziges Mal umzudrehen und nachzusehen, ob der Junge noch hinter mir war. Ich rannte wie ein Irrer, immer im Zickzack, als wäre das, wie ich jetzt rückblickend sehe, irgendeine Form von künstlerischem Ausdruck des Gefühls, ich zu sein.
    Später an dem Abend brach ich, ohne es zu wollen, vor meinem Vater in Tränen aus. Ich schämte mich. Ich erzählte ihm, was passiert war, dass ein Junge sich mit mir hatte prügeln wollen, dass ich aber nicht meinen Mann gestanden und gekämpft hätte, sondern abgehauen sei.
    Mit nachdenklichem Gesicht legte mein Vater seine Gabel hin. Ich starrte auf seinen Bart, der an der dichtesten Stelle preiselbeerrot war, und hoffte darauf, dass mich das, was er sagen würde, was immer es sei, entlasten würde. Er war noch nie ein Mann der großen Worte gewesen, und je länger wir in Boston lebten, desto schweigsamer schien er zu werden. Kurz darauf nahm er wieder seine Gabel zur Hand.
    »Natürlich hast du nicht gekämpft«, sagte er. »Es ist widernatürlich, zu kämpfen. Das eigentlich Natürliche ist es, wegzulaufen.«

GUTACHTEN
    Die Reihe der Verzerrungen, Schachzüge und schmerzlichen Überraschungen, durch die sich unser Sorgerechtsstreit zuspitzte, werde ich hier nicht noch einmal durchkauen. In dem Moment, als ich Thron in den Dienst nahm, war es um die letzte Hoffnung auf Rettung meiner Ehe natürlich geschehen, aber damit hatte ich ja wahrscheinlich gerechnet. Und obwohl meine Zeit mit Thron am Ende kurz sein sollte, war er einige Monate lang in jenem Frühjahr so etwas wie ein Freund, und ich vertraute ihm. Als er also vorschlug, das Sorgerechtsgutachten in Angriff zu nehmen, war ich einverstanden. Ich sollte mehrere lange, intensive Gespräche unter vier Augen mit dem Gutachter in dessen oder deren Büro führen, aber zunächst sollte ich ihn oder sie zusammen mit Meadow im Rahmen eines normalen Besuchs in der Öffentlichkeit treffen.
    Ich suchte mir einen Ort aus – den Spielplatz im Washington Park. Auf diesem Spielplatz war Meadow mehr oder minder aufgewachsen. Als kleines Kind hatte sie sich mit Begeisterung die Bodenstreu in den Mund gesteckt, und als sie alt genug war, um sich festhalten zu können, war sie auf den Federpferdchen hin- und hergewippt. In den letzten Jahren hatte sie auf dem angrenzenden Hügel gelernt, einen Drachen steigen zu lassen. Wenn ich sie wieder einmal verwöhnen wollte, kaufte ich ihr

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