Schroedingers Schlafzimmer
der ihr eigenen Betriebsamkeit steuerte Helma auf den Monitor zu, um Oliver ihre Erfahrungen als freiberufliche Softwarekoryphäe zur Verfügung zu stellen. Wie hypnotisiert starrte er auf das Sehnen- und Knorpelspiel ihrer weißen Kniegelenke unter dem Saum des miesmuschelgelben Leinenrocks. Er hatte das Gefühl, nicht minder unfähig zu einer Reaktion zu sein wie all die Brillengestelle, die an den Wänden hingen. Diese stoisch glotzende Zuschauermasse, die nur darauf wartete, daß es endlich zum großen Salome-Saidi-Showdown kommen würde.
»Mir geht’s hundsmiserabel«, rief er verzweifelt, und das stimmte. Er brauchte die Verzweiflung nicht zu spielen. »Zum Teufel, Helma, du trampelst auf meinen Nerven herum. Ich bin heute morgen mit rasenden Kopfschmerzen aufgewacht! Ich bin wirklich am Ende!«
Schrödingers silberne Augenbrauen fuhren über der Nasenwurzel sanft in die Höhe und sanken an den Schläfen verständnisvoll hinab. Er hob seine großen Hände und sagte: »Oliver, ich leide mit Ihnen. Die Migräne ist eine der schlimmsten Plagen der Menschheit. Unter unserer Schädeldecke spielt irgend etwas verrückt, und wir können nichts dagegen tun. Ich werde Sie keine Sekunde länger belästigen.«
Helmas schmale Lippen verbogen sich zu einem Ausdruck |135| des Bedauerns. »Du Ärmster! Warum hast du das denn nicht gleich gesagt? Ich hatte ja keine Ahnung. Das mit der Sonnenbrille hat doch Zeit.« Sie riß sich die Gucci unisex 1446 aus den Haaren und legte sie auf den Tresen.
Der Zauberer (Oliver bestand darauf, daß er die neue Brille mitnahm) stieß die Ladentür auf, und Helma und er traten nacheinander hinaus in die Sonne. Die beiden schlenderten von dannen, sie paßten auffallend gut zusammen, von der Größe her und auch farblich, die Hinterköpfe: Silber und Gold. Schrödinger war jemand, der mit jeder Frau ein sexuell stimmiges Bild abgab. Der Gedanke quälte Oliver. In der Werkstatt warf er sich auf die alte heugrüne Velourscouch, auf der Do ihm vor langer Zeit nackt Modell gesessen hatte. Nach wenigen Skizzen hatten sie sich immer geliebt, sie hielten es nie lange aus. Als Oliver die Augen schloß, erschienen auf der dunklen Innenseite seiner Lider die Umrisse des sonnenerleuchteten Paares, dem er eben noch nachgesehen hatte, schemenhaft wie auf der Rückseite einer Camera Obscura. Sie lösten sich auf, so wie Salome-Saidi sich scheinbar aufgelöst hatte. Oliver durchfuhr der furchtbare Gedanke, auch in seinem Gehirn könne irgendein Softwareschaden eine Endlosschleife geschaltet haben und die Umrisse der beiden wieder sichtbar werden lassen. Und seine quälenden Fantasien. Entsetzen packte ihn bei der Vorstellung, alles würde von vorne losgehen, für immer und immer, auf dem Bildschirm seiner manischen sexuellen Leere.
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Oliver hat sich gestern irgendwie sonderbar benommen«, sagte Helma, und Do spürte deutlich, daß ihre Freundin bereits eine Theorie entwickelt hatte, warum dies so gewesen war.
Draußen regnete es, der Telefonhörer lag kühl in Dos Hand. Die hellroten Früchte der alten Eibe neben dem Gerätehaus waren in den vergangenen Tagen reif geworden. Die Beeren waren klein und giftig, so daß man den dunkelgrünen Strauch mit den glänzenden Nadeln wegen der Kinder eigentlich aus dem Garten hätte verbannen müssen. Aber Do hatte sich in den vergangenen Jahren nie dazu durchringen können, das Leben des inzwischen zweieinhalb Meter hohen und also beinahe drei Jahrzehnte alten Gehölzes zu beenden. Sie wußte, daß das eine ihrer Schwächen war: im Zweifelsfalle nachzugeben und allem, was existierte, eine Daseinsberechtigung zuzugestehen, auch wenn das bedeutete, die Produktion von Gift in Kauf zu nehmen. Sie wandte den Blick von der dunklen Eibe ab und sagte: »Wie meinst du das: sonderbar?«
»Eben sonderbar«, wiederholte Helma diffus. »Ich kann’s nicht anders erklären.«
|137| Do kannte sie zu gut und sagte: »Ich spüre, daß du’s kannst. Sag mir was los ist.«
Helma zögerte einen Moment. »Hat er dir denn nichts erzählt?«
»Oliver? Was soll er mir erzählt haben? Er meinte, du hättest eine neue Sonnenbrille kaufen wollen, eine Gucci, und kurz darauf sei Schrödinger hereingeschneit, um seine Lesebrille abzuholen.«
»Das stimmt soweit.«
»Und was, bitteschön, stimmt
nicht
?«
Helma konnte sich Zeit lassen, weil sie wußte, daß es in ihrer beider Leben im Moment nichts Dringliches zu erledigen galt. Die Kinder waren in der Schule, und Do arbeitete
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