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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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sich bei dem Geschirr, das hier in Verwendung ist, noch immer um dasselbe handelt, das letzte, das mein Vater vor seinem Tod noch gekauft hatte. Diese letzten beiden identischen Service sind im Lauf der Jahre durch Bruch zu bloß einer Garnitur geschmolzen, die meine Mutter bei ihrer Übersiedlung natürlich hierher mitgenommen hat. Und auf einmal war mir, als würde die Angst, mit der mein Vater immer auf diese Teller gestarrt hat, jetzt von diesen Tellern auf mich zurückreflektiert und sich in mich versenken. Ich kann nicht anders, als ununterbrochen fassungslos auf den Teller vor mir zu starren, auf den abwechselnd Lammschulter oder Milchreis, Müsli mit Yoghurt oder gefülltes Huhn geladen wird, und an den Tod denken – Wieso an den Tod mein Vater ist tot und die Teller sind da und jemand der von ihnen ißt ist das ein Frevel das In-Ehren-Halten ist ein Frevel ein Totenkult der Tod und mein ganzes Leben Mein ganzes Leben habe ich mich nie um diese jüdischen rituellen Speisegesetze gekümmert, nach dem Tod meines Vaters, und damals war ich noch ein Kind, hatte das ja keine Bedeutung mehr, und irgendwann hatte ich das überhaupt vergessen. Völlig vergessen. Na also man kann eine zweite Unschuld erringen eine dritte die Schuldlosen können das immer die Schuldigen sowieso biologisch statt koscher Amerika statt Europa eine neue Sprache eine andere Sonne Wo kommst du her ich hab es vergessen ich will zurück wo ist zurück da oder dort? Schluß Lieber Norbert, ich mache für heute Schluß, Du kannst Dir jedenfalls vorstellen, daß ich sicherlich bald, früher als ihr alle erwartet, nach São Paulo zurückkommen werde – vorausgesetzt, daß die kleine Hysterikerin, die bei mir eingezogen ist, mich wieder in mein Haus hineinläßt. Bist Du in Kontakt mit ihr? Und was gibt es bei Dir Neues, alte Hütte? (Casa Nova kann man Dich bei Deinem Alter ja wirklich nicht mehr nennen!) Was macht Dein
10.
    Liebesleben? Roman hielt mit dem Schreiben inne, dann warf er den Brief in den Papierkorb und stand auf. Er blickte auf die Zimmertür, als erwartete er, daß sie sofort aufginge und jemand hereinkäme, der ihn erlöste. Er hörte seine Mutter hinter der Tür mit irgend etwas scheppern. Ich muß nach Wien, dachte er, so schnell wie möglich in die Stadt.
    Das Schreiben hatte ihn körperlich sehr angestrengt, hatte seine Muskeln völlig verspannt, weil er auf seinem Tisch, auf dem schmalen freien Streifen zwischen Tischkante und Fernsehapparat, das Papier nur quer hinlegen konnte und daher mit verdrehtem Oberkörper, statt von links nach rechts, von unten nach oben schreiben mußte. Er streckte sich und massierte seinen Hals und Nacken. Warum fügte er sich solche körperlichen Schmerzen zu? Sich keine körperliche Lust zu bereiten genügte ihm nicht? Er warf sich schluchzend auf das Bett, dachte er, ein Satz, der ihm seltsamerweise von der Lektüre der Dämonen von Dostojewski wörtlich im Gedächtnis geblieben war – während er sich behäbig auf sein Bett legte, auf den Rücken, die Hände unterhalb seines Bauches verschränkt, wie aufgebahrt, in seinem Jugendbett, das gerade so groß war, daß er, wenn er sich nicht besonders breit machte oder streckte, genau darin Platz hatte, wie in einem – schnell ließ er seine rechte Hand seitlich vom Bett hinunterbaumeln. Wie ist er bloß auf diese Schnapsidee gekommen, einen Brief nach Brasilien zu schreiben, ausgerechnet an Norbert, diesen Bonvivant, der, wenn er in der Eile, mit der er von Genuß zu Genuß hastet, überhaupt Zeit fände zu antworten, doch nur von neuen Bars und neuen Freundinnen schreiben würde, von seinen Marias und Mariangelas und wie sie alle hießen, die dann umnebelt von den Kondensstreifen, die er zurückließ, allesamt als Marias das Dores, als Schmerzensmarias, zurückblieben, alle gleich, verwechselbar, Roman verweilte kurz mit seinen Gedanken bei Norberts Marias, schwermütig belustigt, bis sich diese immer mehr in seiner Phantasie zusammendrängten, ineinanderglitten, gleichsam wechselseitig aufhoben und einander verschluckten, bis die Gruppe von abstrakt allgemeinen Frauengestalten schließlich zu einer einzigen, nun aber riesigen, breiten, massigen, entgrenzten Frau zusammenfloß, die plötzlich die Züge seiner Mutter hatte. Rasch starrte er zum Fenster, versuchte sich auf das Fensterkreuz zu konzentrieren, um dieses Bild aus seinem Kopf zu verdrängen, draußen wirbelten schimmernd weiße Schneeflocken in der Abenddämmerung. Die Probleme mit

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