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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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aber gleichzeitig war die Luft schon irgendwie kühl unterfüttert, die Birkenblätter begannen sich zu verfärben, und die Wasserfläche des Sees schimmerte in einem satten herbstlichen Braun, jetzt, bei diesem Licht, bei dieser Temperatur, begann er erst so richtig mit sich, mit seinem Namen identisch zu werden. Moorbad Komprechts, sagte Macho, wir sollten unseren Ortsnamen ändern, Moorbad Komprechts. König nickte. Die braun-grüne Fassade des neuen Strandgebäudes. Warum Herbstfarben für das Neue? König hatte das Gefühl, plötzlich und unerwartet am Ende zu sein. Er hörte nicht zu, als Ableidinger redete. Neu, neu, neu, wo man auch hinhörte, jeder Satz schien in eine Schachtel verpackt, auf der NEU draufstand. Neubeginn, Erneuerung, neue Zeit, Neugestaltung, Neugier. Wohin man auch blickte, die Gemeinde sah aus wie ein Supermarkt, wo jede Ware mit dem großen Aufdruck NEU angepriesen wird, sogar der alte Kaffee – JETZT NEU: CLASSIC. Bitte einen großen Braunen, aber bitte den neuen, den Classic. Medwed unterbrach Ableidinger mit den Worten: Das ist mir neu! Und König ging ein paar Schritte zum See hin. Das Neugeborene. Wenn das Kind wirklich schon heute zur Welt kam, drei Monate früher, als er ursprünglich erwartet hatte, dann hieß das – Zahlen und Monatsnamen wirbelten durch seinen Kopf, nebelhafte Bilder, Moordämpfe – kein Zweifel, dann hieß das, daß Verena bereits schwanger geworden sein mußte, als sie noch mit ihm. Als sie im Extra-, als sie noch regelmäßig, das heißt. Das würde bedeuten. Dolfi! Er sah sich umzingelt. Ob er etwas gewußt habe von der Geschichte, fragte Medwed. Wenn sie nicht aufpaßten, werde das eine Totgeburt, sagte Ableidinger. Was für eine Geschichte, was für eine Totgeburt? Was die Leute so reden. Das wisse doch jeder, sagte Ableidinger. Alle acht Jahre fordere der Braunsee ein Opfer. Diese Geschichte habe er schon als Kind gehört, eine alte Legende. Und es könne sich doch jeder daran erinnern, daß vor sieben Jahren der Bub vom Sawelko ertrunken sei und vor fünfzehn Jahren der Ruso. Was ist, wenn nächstes Jahr, gleich zu Beginn der Saison – ich sag ja nur, sagte Ableidinger. Wenn was dran ist an der Geschichte, ich stell mir nur vor, alles voller Gäste, dann gibts gleich einen Toten, schon können wir wieder zusperren. Red mit den Leuten, Dolfi, es ist so, alle acht Jahre, das käme genau zusammen mit – Hör doch auf mit der Geschichte, sagte Medwed.
    Aberglaube, sagte König, was willst du machen gegen den Aberglauben, soll ich vielleicht reingehen ins Wasser, damit wieder für acht Jahre eine Ruhe ist?
    Die Männer lachten, König sagte, daß er noch einen Termin habe, und bat Medwed, ihn mit dem Wagen zum Gemeindeamt zu bringen.
    Was ist denn los mit dir, Dolfi, du bist ja ganz weiß im Gesicht. Ist dir nicht gut? Ist es wegen der Geschichte? Vergiß es. Man muß nicht auf alles was geben, was die Leute reden.
    Fahr! Ich hab’s eilig. Ich muß ins Spital.
    Ins Spital? Was fehlt dir denn ? Bist du
    Nichts ist.
    Wenn das Kind schon da ist. Wenn es ihm nicht ähnlich sieht. Wenn die Leute nicht reden werden: Ganz der Bürgermeister! Dann ist nichts.
    Soll ich dich hinbringen ins Spital? Mußt dich anschauen lassen?
    Aber nein. Nichts ist. Besuchen muß ich wen. Gratulieren.
    Wenn das Kind schon da ist. Er mußte es sich sofort anschauen. Er mußte sofort das Gesicht sehen.
9.
    Ein Blutstropfen quoll aus der Wunde, verschmierte sich an der Schneidefläche des Brotmessers und tropfte seitlich von seinem Finger auf den Küchentisch. Es tat weh, aber ihn entsetzte, daß er den Schmerz nicht noch viel, viel stärker spürte. Der Schmerz schien ihm nicht größer als der, den man empfinden kann, wenn man zu außerordentlichem Mitleid begabt ist. Er schrie auf. Augenblicklich kam ihm selbst der Schrei unecht vor, gespielt, die Parodie eines lebendigen Schreis, er sah sein echtes Blut und war nur fähig zu diesem falschen Schrei.
    Dann lag er auf dem Ehebett im sogenannten Elternschlafzimmer, auf dem Rücken, beide Arme auf den Ellenbogen aufgestützt, von der linken Hand ließ er Blut in das Bett tropfen, mit der rechten hielt er eine Zigarette, von der er die Asche ebenfalls in das Bett fallen ließ. So lag er da zwischen Blut und Asche, als seine Mutter nach Hause kam.
    Erstmals fand er ihre Hysterie angemessener als jede Reaktion, zu der er selbst fähig war.
    Als sie ihm schließlich irgendeine Tinktur auf den Finger träufelte, eine Salbe

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