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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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daraufschmierte, einen Verband herumwickelte, hatte er den Gedanken, daß sie bereits beginne, ihn zu mumifizieren. Er schloß die Augen.
    Als er die Augen wieder öffnete, lag sie neben ihm im Bett, zwischen ihnen ein Aschenbecher.
10.
    Die einzige Ähnlichkeit, die König an dem Neugeborenen feststellen konnte, war die mit anderen Neugeborenen. Er wußte nicht, ob ihn das beruhigen oder sehr beunruhigen sollte.
11.
    Im Grunde war alles lächerlich. Es ist alles lächerlich, wenn. Der wochenlange Kampf gegen sein Übergewicht, gegen den Selbsthaß, wenn er seinen schwammig gewordenen Körper im Spiegel sah, sein aufgedunsenes Gesicht, er machte natürlich die Zeit des Nichtrauchens dafür verantwortlich und erwartete, die Kilos zu verlieren, wenn er wieder rauchte. Er frühstückte spät, verweigerte das Mittagessen, und wenn er in plötzlichem Heißhunger am Nachmittag drei, vier oder fünf Wurstbrote hinunterschlang, in einer barbarisch achtlosen Wollust des Schlingens, stehend in der Küche, dann tröstete und beruhigte er sich mit zweierlei: Er hatte ja tatsächlich nichts zu Mittag gegessen, und er wird auch das Abendessen streichen. Also gut, ein letztes Brot noch, aber dann wirklich nichts am Abend.
    Am Abend aß er tatsächlich nichts, höchstens etwas ganz Leichtes, das seine Mutter ihm aufdrängte, besorgt, weil er gar nichts mehr aß, ein bißchen Salat, das hat keine Kalorien, das kannst du bedenkenlos essen, Romy, du brauchst doch die Vitamine, aber dann kam der Heißhunger in der Nacht, und er aß eine Scheibe von dem Schweinsbraten, den er beim Abendessen zurückgewiesen hatte, oder zwei Scheiben, dazu ein Stück, ein kleines Stück Knödel, das er in den kalten Bratensaft tunkte, dazu zwei Flaschen Bier, wie sollte er sonst einschlafen können, dafür werde er am nächsten Tag zum Frühstück nur Knäckebrot essen, das nahm er sich fest vor.
    Er wog sich morgens und abends, dann nur noch morgens, abends hatte er stets noch ein Kilo mehr, es war lächerlich, den heroischen Verzicht auf eine vierte Flasche Bier oder auf eine fünfte Scheibe Brot sofort als Erfolg auf der Waage ablesen zu wollen. Er mußte konsequenter werden. Er deckte sich im Kaufhaus mit Müsli-Riegeln und Ballaststoff-Riegeln ein, Unmengen kaufte er, denn er wollte viel abnehmen, und er aß sie ununterbrochen, über den Tag verteilt, Zigaretten und Müsli-Riegel, das wechselte sich so ab. Es gelang ihm, Mahlzeiten auszuschlagen und nicht nachzuholen, vor allem das mitternächtliche Plündern des Kühlschranks konnte er tagelang vermeiden, weil er am Abend schon so betrunken war, daß er früh einschlief. Er schöpfte Hoffnung, und fast euphorisch wurde er eines Nachmittags, als er eine neue Hose kaufte, eine bequeme, weite Hose, die ihn nicht so zwickte und einschnürte wie die alte. Ja, so fühlt man sich, wenn man Gewicht verliert, das Gewand schlottert einem am Leib. Aber am nächsten Morgen stand er wieder fassungslos im Badezimmer, schob die Waage auf dem Boden hin und her – stand sie auch wirklich gerade? –, versuchte mehrmals, besonders leichtfüßig auf die Waage zu steigen – er hatte kein Gramm abgenommen.
    Er gab es auf, ergeben in das offenbar Unvermeidliche: Er wurde alt, geriet aus der Form. Er beobachtete ältere Männer, wenn er einkaufen fuhr, studierte ihre feisten Gesichter unter den schütteren Frisuren, ihre vorspringenden Bäuche, so waren sie, sie schienen durchaus einverstanden mit sich selbst, niemand lachte sie aus, lief höhnend hinter ihnen her, sie machten Witzchen zu der Kassiererin im Supermarkt oder zur Kellnerin im Kaffeehaus, und sie bekamen launige Antworten, in die respektvoll ein »Herr« und der Name und manchmal ein Titel eingewoben waren, und die massigen Schädel dieser Männer glänzten noch stärker, und ihre Bäuche sprangen noch selbstgewisser hervor, sie waren eins mit sich, und Roman dachte, daß das wohl das Geheimnis war. Er gehörte jetzt zu denen, oder eher zu denen, oder bald schon zu denen, und er mußte jetzt, beziehungsweise es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als – was? Er konnte es nicht. Sich damit anfreunden. Sich mit sich selbst anfreunden. Mit sich selbst? Das war er nicht. Er hatte ein Selbstbild und ein Spiegelbild, dazwischen lag eine lange Reise, auf der hatte er sich verloren. Er kaufte keine Müsli-Riegel mehr, wozu? Er kasteite sich nicht mehr, ganz ohne heroische Vorsätze stocherte er in seinem Essen, stieg nicht mehr auf die Waage, er ließ sich mit

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