Schuld währt ewig
er stattdessen.
»Magst red’n?«
Reden? Warum glaubten Frauen, dass man mit Reden so etwas aus der Welt schaffen konnte?
So etwas.
Er hatte einen Menschen erschossen. »Ja … Vielleicht.«
»Soll ich kommen?«
»Na. Ned. Wenn ma … Wir haben hier grad einen Haufen Arbeit. Wenn wir damit durch sind, dann komme ich nach Regensburg. Okay?«
»Ja. Guad. Pass auf dich auf, gell.«
»Mach ich.« Er beendete das Gespräch und kehrte zu Moni zurück. Verwundert bemerkte er, dass er sich besser fühlte. Ein wenig leichter.
Moni hatte inzwischen den Kuchen aufgegessen und kratzte die Krümel zusammen. »Wo waren wir stehengeblieben?«
»Bei Sylvester, der seinen Freund besuchen wollte.«
Sie schob die Krümel in den Mund. »Der Freund wohnte am anderen Ende des Dorfes. Habe ich schon gesagt, dass das Dorf durch die Bahnlinie geteilt wird? Nicht, oder? Sylvester stapft also los und durch Nebel so dick wie Zuckerwatte. Die Andreaskreuze am Bahnübergang waren damals noch ohne rotes Blinklicht.« Moni trank einen Schluck vom Latte. »Langer Rede kurzer Sinn: Sylvester wurde von einem Zug erwischt. Die Leichenteile lagen über hundert Meter verteilt. Das muss echt grauslich gewesen sein.«
Diese Bilder wollte Alois sich eigentlich nicht ausmalen.
»Der Lokführer hat den Unfall nicht bemerkt«, fuhr Moni fort. »So wie es aussieht, hat Schülke seinen Bruder gefunden, als er von der Chorprobe kam. Besser gesagt, er hat Sylvesters Kopf gefunden. Der reinste Horror. Da war Schülke acht.«
Alois war erschüttert und wusste nicht, was er sagen sollte. Ihm fielen nur hohle Worte ein. Und das wunderte ihn. Er hatte schon Dutzende Tote gesehen, und nie war ihm das an die Nieren gegangen. Doch nun machte ihn alleine die Vorstellung fertig, wie ein Junge den abgetrennten Kopf seines Bruders fand. »Wie ging es weiter? Gab es ein Verfahren?«
Moni nickte. »Es gab mehrere Prozesse. Jedes Mal wurde die Bahn freigesprochen. Die Sicherungsmaßnahmen am Bahnübergang entsprachen den damals geltenden Vorschriften. Es war ein schreckliches Unglück. Doch damit wollte Schülkes Vater sich nicht abfinden. Er ging durch alle Instanzen und verlor immer wieder.«
Alois blickte aus dem Fenster und sah Monis Gesicht in der spiegelnden Scheibe. Ein schreckliches Unglück. Niemand war schuld. Das war doch genau das, wonach Tino suchte.
60
Die Ruhe der Kirche tat ihm gut. Sie legte sich schützend um ihn, ließ die Gedanken klarer werden und auch die Gefühle. Er hatte Glück gehabt. Verdammtes Glück. Er ließ die Vorstellung zu, was ohne Alois geschehen wäre.
Helmbichler hätte ihm das Messer direkt ins Herz gestoßen.
Wäre er sofort tot gewesen? Wie lange dauerte es, bis es zu Ende war? Hätte er Schmerzen gehabt? Was wären die letzten Worte gewesen, die er hörte, die letzten Bilder, die er sah? Hätte er noch gespürt, wie Kälte und Feuchtigkeit des Bodens durch den Mantelstoff drangen, und den modrigen Geruch des welkenden Laubs gerochen und die kühle Nässe des Nieselregens im Gesicht gefühlt?
Er hätte erfahren, ob man wirklich dieses weiße Licht sah, von dem die sprachen, die zurückgekehrt waren. Und hätte mit diesem Wissen nichts mehr anfangen können. Es wäre aus. Vorbei. Sein Körper eine nutzlose Hülle, die bald verrottete, und seine Seele … Wo wäre sie? Das, was ihn ausmachte, wäre das einfach gelöscht, wie Daten auf einer Festplatte? Oder würde seine Seele irgendwo Unterschlupf finden? Vielleicht in einem Schmetterling, von denen man im antiken Griechenland geglaubt hatte, sie seien die Seelen der Toten. Das hatte er im Sommer während einer Mordermittlung herausgefunden. Die Seelen der Toten. Wohin gingen sie?
Nirgendwohin, fürchtete er. Der Glaube an ein Leben nach dem Tod war eine romantische Vorstellung oder eine eitle. Je nachdem. Wenn es aus war, war es aus. Dühnfort war kein gläubiger Mensch. Auch wenn er sich manchmal wünschte, einer zu sein. Vor allem in Lebenssituationen, in denen der Glaube Halt geben konnte, es leichter machen würde, sein Schicksal anzunehmen.
Er war auch keiner, der sein Herz auf der Zunge trug, kein Mann der überschwänglichen Worte. Alois hatte ihm das Leben gerettet, und dafür war er ihm unendlich dankbar. Mehr als er je in Worte fassen konnte. Es war ein Gefühl, das sich in ihm weitete, ihn leichter und ruhiger werden ließ.
Es war richtig gewesen, Ruhe zu suchen. Und nun war es an der Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen.
Dühnfort erhob sich aus der
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