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Schuld währt ewig

Schuld währt ewig

Titel: Schuld währt ewig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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begann zu rasen. Doch Becker hatte gesagt: kein Grund zur Sorge. Eher im Gegenteil. Was war geschehen in diesen Sekunden?
    Ludwig rollte sich auf die Seite. Sie wandte sich um.
    In Sanne verkrampfte sich jeder Muskel. Sie wollte das nicht sehen.
    Becker hielt den Film an. »Sie können nichts dafür. Ich zeige Ihnen den Sturz nicht. Aber ich zeige Ihnen, was davor geschehen ist. Sie sind nicht schuld an Ludwigs Tod. Niemand hat Schuld. Es war ein Unfall.« Becker drückte auf eine Taste. Der Film lief weiter.
    Sanne sah, wie sie sich vom Bett abwandte, bückte, einige Plastikautos aufhob, die auf dem Teppich lagen, und ins Regal neben dem Fenster stellte. In diesen wenigen Sekunden wandte sie Ludwig den Rücken zu. Er schob die Decke zurück, kniete sich mit den Unterschenkeln auf die Absturzsicherung, die das Bett umgab, beugte sich vor und versuchte ein Mobile aus Dinosauriern zu erreichen, das etwa einen Meter entfernt von der Decke hing.
    Becker drückte eine Taste. Die Bilder stoppten. »Ludwig hat nach dem Mobile gegriffen und dabei das Gleichgewicht verloren. Sie können nichts dafür.«
    Sanne brach in Tränen aus. Sie konnte es nicht verhindern. Eine Welle von Gefühlen schlug in ihr hoch. Schrecken und Entsetzen. Mitleid. Wut. Fassungslosigkeit. All die Jahre hatte Evelyn die Wahrheit gekannt. Und bezichtigte dennoch sie. Das Mobile! Stunden zuvor hatte Evelyn es aufgehängt. Warum nicht über dem Bett?
    Dann kam die Erleichterung. Grenzenlose Erleichterung. Sie war nicht schuld. Becker lächelte. »Manchmal bin ich froh, wenn aus einem Mandat nichts wird.«
    Sie dankte Becker. Er brachte sie zur Tür. Als sie vor das Haus trat, fühlte sie sich leicht wie nie in ihrem Leben, beinahe schwebend. Es regnete, der Himmel lag wie grauer Zement über der Stadt. Doch all das sah sie nicht. Sie fühlte sich wie von einer schweren Krankheit genesen. Noch ein wenig schwach, aber gut.
    Sie stieg in den Leihwagen und beschloss, den Porsche instand setzen zu lassen. Egal, was das kostete. Sie wollte ihn wiederhaben.
    Als sie den Rotkreuzplatz überquerte, fiel ihr Thorsten ein. Ein tiefer Schatten legte sich über das Gefühl von Leichtigkeit. Thorsten. Ihr einziger Freund. Warum hatte er das getan?
    Warum? Das war doch klar. Sie hatte ihn abgewiesen. Und dafür hatte er sich gerächt. Perfide gerächt.
    War das so einfach?
    Vielleicht hatte sie ja auch ihre unausgesprochene Angst, an Ludwigs Tod schuldig zu sein, Thorsten anvertraut? Diese Angst, doch noch einmal an Ludwigs Bein gezogen zu haben. Und Thorsten hatte das falsch verstanden …
    Quatsch. Das hatte sie nicht. Daran würde sie sich doch erinnern.
    Er hatte sie manipuliert.
    Seine Rache tat weh. Beinahe konnte sie seine eindringliche Stimme hören: Doch, Sanne. Es ist wahr. Du hast es mir erzählt, und das weißt du, auch wenn du dich sofort wieder ins Verdrängen geflüchtet hast.
    Was er ihr alles erzählt hatte … Erstunken und erlogen! Doch er hatte so lange insistiert, bis sie ihm nicht nur geglaubt hatte, sondern sich sogar daran zu erinnern meinte. Das war doch unmöglich. Lag es am Rotwein? Sie hatte eindeutig zu viel getrunken. Oder hatte er etwa etwas hineingetan? Und plötzlich hatte sie eine Vermutung.
    Natürlich!
    Der dumpfe Schmerz wich Wut. Sanne gab Gas und sah zu, dass sie nach Hause kam. Sie wollte das jetzt wissen.
    Eine halbe Stunde später parkte sie den Wagen neben dem Waschhaus und hielt wieder einmal Ausschau nach Herrn Kater. Diese treulose Seele hatte sich seit Tagen nicht blicken lassen. Er fehlte ihr. Sein Schnurren, wenn sie ihn streichelte, seine Anwesenheit in diesem leeren Haus, die ein wenig von ihrer Einsamkeit vertrieb.
    Sie sperrte die Haustür auf, schlüpfte aus dem Steppmantel, startete den Laptop und gab den Titel des Artikels in die Suchmaske ein, den sie bei Thorsten gesehen hatte. Der erste Treffer führte zur Webseite des Magazins.
    Das Leben als Erfindung.
    Unser Gedächtnis ist nicht fotografisch. Es selektiert und entstellt Erinnerungen an wichtige Begebenheiten. Wissenschaftlern in den USA ist es nun sogar gelungen, falsche Erinnerungen zu erzeugen – beispielsweise an Zugfahrten, die nie stattgefunden haben. Was geradezu unglaublich klingt, ist notwendig für unsere Orientierung im Alltag.
    Begierig las Sanne den Beitrag, und dann war alles klar. Er enthielt quasi eine Art Anleitung, wie man Menschen dazu brachte, sich an Ereignisse zu erinnern, die nie stattgefunden hatten. Es ging verblüffend einfach,

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