Schuld währt ewig
Verstand weigerte sich, auch nur einen Schritt zu tun. »Warum? Sag mir wenigstens, warum du das tust?« Regen setzte ein. Erste Tropfen trafen ihr Gesicht.
»Warum? Ich hätte dich für intelligenter gehalten. Kommst du wirklich nicht darauf?«
Was ging nur in diesem kranken Hirn vor sich?
Antworte etwas! Sanne, antworte! So kannst du Sekunden gewinnen. Uli fühlt sich von allen missachtet. Will sie Aufmerksamkeit? Die wird sie bekommen. Doch nur, wenn sie erwischt wird. Oder sich stellt. Nein. Es geht ihr um etwas anderes. Sie bringt Leute um, die in den Tod eines anderen verstrickt sind. Schuldlos. Leute, die nicht bestraft wurden. Sie will Gerechtigkeit. Wofür?
»Gerechtigkeit. Es geht dir um Gerechtigkeit«, stieß Sanne hervor.
Ein Lächeln verzerrte Ulis Gesicht. »Sieh mal an. Du bist die Erste, die das versteht. Erstaunlich. Dich habe ich immer für die Egoistischste auf meiner Liste gehalten. Plötzlich so viel Einfühlungsvermögen. Woher das wohl kommt? Vermutlich liegt es an meiner neuen Freundin Beretta.« Mit dem Lauf der Waffe fuhr Uli sich über die Wange. Eine beinahe zärtliche Geste. »Sie macht dir Angst, nicht? Sie beflügelt deine Kreativität, dein beschissenes Leben irgendwie zu retten. Sie gehört übrigens Arno. Hat er mit dem Haus von seinem Onkel geerbt.«
Regen lief über ihr Gesicht. Der Pulli wurde nass. Sanne fror. Die Kälte drang bis in ihre Knochen.
Du musst reden! Sag etwas!
Gerechtigkeit. Wofür? Der Unfall. Natürlich. Damit musste es zusammenhängen. War der Verursacher nicht bestraft worden? Es hatte sicher einen Prozess gegeben. Doch was war schon Gerechtigkeit? Sie lag im Auge des Betrachters. In diesem Fall in einem kranken Auge. Uli fühlte sich ungerecht behandelt. »Der Mann, der den Unfall verursacht hat … Ist er nicht bestraft worden?«
»Doch. Natürlich. Allerdings hatte Justitia an diesem Tag ihre Augen fest verbunden. Eine Geldstrafe von tausend Mark für ein ruiniertes Bein, ein ruiniertes Leben. Ist das gerecht? Sag! Ist das gerecht?« An Ulis Strickmütze perlten die Regentropfen ab, ebenso an der Steppjacke. Ihr Atem fing sich kondensierend in der kalten Luft.
»Nein. Natürlich nicht. Das ist nicht gerecht.« Regen drang durch Pullover und Jeans und mit ihm die Kälte. Sanne presste die Kiefer aufeinander, um nicht mit den Zähnen zu klappern. Sah sie denn niemand hier oben auf dem Dach stehen? Rief denn niemand endlich die Polizei? Doch der Regen umgab sie wie ein Schleier, nahm die Sicht auf die Häuser des nahen Dorfes.
Für einen Augenblick ließ Uli die Waffe sinken. »Nicht gerecht. Schön, dass du das auch so siehst. Tausend Mark. Nicht für mich. Für einen wohltätigen Zweck. Kein Schmerzensgeld. Der Kerl hatte nichts. Der hat mir das Leben ruiniert und hat seines weitergelebt, als wäre nichts geschehen.«
»Und warum bringst du dann nicht den um, sondern rächst dich an Unschuldigen?« Die Worte waren raus, kaum dass Sanne sie gedacht hatte.
Ein rollendes Lachen entstieg Ulis Kehle und schüttelte sie. »Schöner Vorschlag. Die liebe Sanne erstellt eine Todesliste. Klasse.« Mit dem Handrücken wischte sie sich über das Gesicht, und Sanne wusste nicht, ob es Regentropfen oder Lachtränen waren. »Das ist süß, und deshalb verrate ich dir etwas: Das wollte ich. Doch dummerweise ist er mir zuvorgekommen. Ist einfach abgekratzt und hat es mir vermasselt. Ich bin nur noch rechtzeitig zu seiner Beerdigung gekommen.«
»Der Unfall war vor zehn Jahren …«
»Zwölf. Zwölf Jahre, fünf Monate und zehn Tage.«
»Gut. Dann eben zwölf. Warum erst jetzt? Warum ich? Warum überhaupt?« Sanne stieß die Worte hervor. Angst wich Wut. Sie wollte wissen, weshalb sie in dieser Lage war, in welche abstrusen Gedanken Uli sich verstiegen hatte.
85
Dühnfort erreichte keuchend die vierte Etage und fluchte still, dass er nicht mehr für seine Kondition tat. Am Ende des Flurs entdeckte er eine steile Treppe, die zu einer Metalltür führte: der Zugang zum Dach.
In wenigen Minuten würde das SEK eintreffen. Sein Handy vibrierte. Eine SMS von Gina. Wir sind da. Wo bist du?
Wir, das waren Gina, Alois und Arno Rodewald. Wenn sie verhandeln mussten, dann war vermutlich er es, der Ulrike überzeugen konnte, aufzugeben. Wobei Dühnfort nicht glaubte, dass sie aufgeben würde. Vier Morde. Lebenslänglich. Vielleicht sogar Sicherungsverwahrung. Sie mussten mit allem rechnen. Sogar damit, dass sie sich von der Polizei erschießen lassen würde. Suicide
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