Schuld währt ewig
alles im Griff. Nur den Schmerz in seiner Hüfte nicht. Er biss die Zähne zusammen und blieb alle paar Meter stehen. Die Aussicht, Weihnachten und Silvester auf einem Luxusschiff im Indischen Ozean zu verbringen, ließ ihn die Schmerzen ertragen.
Mit einem Blick durchs Glas suchte er die Halbinsel ab, die im Sommer von den Nackerten in Besitz genommen wurde. Da war niemand. In dem dünnen Gürtel aus Büschen und Bäumen am Westufer konnte sich niemand verstecken. Im Norden führte die A99 nah am Ufer vorbei. Von dort drohte keine Gefahr. Und auf der Ostseite mit den Parkplätzen gab es keine Möglichkeit, sich zu verbergen.
Während seines Rundgangs fielen ihm nur eine Frau mit Hund auf und ein altes Ehepaar, das derart in ein Gespräch vertieft war, dass es ihn nicht wahrnahm.
Als Eugen zum Parkplatz zurückkehrte, parkten dort zwei Fahrzeuge, die noch nicht dagestanden hatten, als er zu seinem Rundgang aufgebrochen war. Ein roter Kombi und ein schwarzer Renault. Ihm war kalt, er war völlig durchfroren, und er ärgerte sich, dass er nicht dran gedacht hatte, eine Thermoskanne mit Tee mitzunehmen.
Im Auto war es ein wenig wärmer und vor allem windgeschützt. Angespannt beobachtete er, ob die Spaziergänger wieder auftauchten und rechtzeitig verschwanden. Er wollte nicht gesehen werden. Von niemandem. Deshalb hatte er diesen Ort ausgewählt. Was er tat, war … Ja, es war kriminell. Er war ein Erpresser, einer, der das Licht der Öffentlichkeit scheuen musste. Da gab es nichts zu beschönigen. Doch mit einem Mal beschlichen ihn Zweifel, ob es wirklich ein guter Plan war, an diesem gottverlassenen Ort die Geldübergabe durchzuziehen. Niemand konnte ihn sehen. Das war gut. Aber es konnte ihm auch niemand zu Hilfe kommen, falls … Falls was?
Eugen reckte sich. Alles würde gutgehen.
Die Frau mit dem Hund kam zurück. Sie ging zu dem roten Kombi und fuhr kurz darauf weg. Ein paar Minuten später tauchte auch das Ehepaar wieder auf, stieg in den Renault, und einen Moment später lag der Parkplatz verlassen vor Eugen. Dämmerung senkte sich herab. Von der nahen Autobahn wehte der Wind ein stetes Brausen herüber. In einem knappen Kilometer Entfernung, jenseits der Felder, gingen in den Bürogebäuden Unterföhrings Lichter an.
Halb fünf. Nichts rührte sich. Sorge wollte sich in Eugen breitmachen. Wurde er versetzt? Vermutlich nicht. Jeder war heutzutage unpünktlich. Man dachte sich nichts dabei. Und falls der Deal heute doch platzte, würde Eugen nicht lockerlassen und seine Forderung hochschrauben. Schmerzensgeld für den quälenden Spaziergang.
Fünf nach halb fünf. Lichter erschienen auf der Zufahrt des Parkplatzes. Im Schritttempo näherte sich ein silberfarbener Lieferwagen. Er stoppte etwa zwanzig Meter von Eugen entfernt. Der Motor erstarb. Die Lichter blieben an. Es war schon dämmrig. Eugen konnte den Fahrer hinter der Windschutzscheibe nicht erkennen.
War er das? Weshalb stieg er nicht aus? Wartete er darauf, dass Eugen den ersten Schritt tat? Anscheinend, denn er gab Lichthupe.
Gut. Dann machte eben er den Anfang. Der Kerl war ein Weichei, ein Waschlappen. Von dem war nichts zu befürchten. Für einen flüchtigen Sekundenbruchteil erschienen Eugen diese Gedanken wie mutmachendes Pfeifen im Dunklen.
15
Die Befragung der Personen in Flades Umfeld war abgeschlossen, Handy- und Mailkontakte geprüft. Ergebnislos. Mit niemandem war eine Rechnung offen. Mit niemandem gab es Streit. Angeblich. Und auch Neider gab es nicht. Kein Motiv in Sicht. Nun sahen sich ein paar Kollegen der Abteilung Wirtschaft die Firmenunterlagen an. Baugewerbe, da wurde gerne gemauschelt und bestochen. Wer weiß, worin Flade verstrickt gewesen war.
Dühnfort kehrte aus Flades Büro zurück in seines, holte die angebrochene Tafel Schokolade aus der Schublade und brach einen Riegel ab. Er spürte dem bittersüßen Geschmack nach und sah aus dem Fenster. Es wurde schon dunkel.
Bis zur Besprechung mit Gina und Alois blieben noch zwanzig Minuten. Zeit genug für ein Gespräch mit seinem Vater. Weihnachten auf Sylt. Ein verlockender Gedanke. Er liebte das Meer, die Weite der Landschaft und des Himmels. Die ruhigen Stunden in dem alten Haus, die schönen Erinnerungen, die er damit verband. Vor allem an die Zeit, als seine Eltern noch ein Paar gewesen waren und er ein kleiner Junge, als das Leben noch leicht und unkompliziert schien.
Nach dem dritten Läuten meldete sein Vater sich. »Dühnfort.« Die Stimme klang wie meist
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