Schuld währt ewig
erst an, wenn er sich bereits auf dem Weg befand. Dann hatte er am Tatort ein paar Minuten für einen ersten ungestörten Eindruck. Wenn der Trubel erst losging, war daran nicht mehr zu denken. Sein Vorgehen entsprach zwar nicht den Vorschriften und hatte zur Folge, dass er sich seit Jahren einen unausgesprochenen Wettkampf mit Spurensicherung und Rechtsmedizin lieferte, wer schneller da war. Doch der erste Eindruck war ihm wichtig und daher die Vorschrift egal.
Gina griff nach dem Duschhandtuch und reichte es ihm. »Wenn ich das jetzt richtig interpretiere, dann wird aus unserem gemütlichen Frühstück nichts.«
»Leider.« Er erklärte ihr, worum es ging, rief dann Alois an und trank mit Gina eilig eine Tasse Kaffee im Stehen, bevor sie sich auf den Weg machten.
Dämmerung lag über der Stadt. In der Nacht hatte es Frost gegeben. Papierdünne Eisschichten überzogen die Fahrzeuge am Straßenrand. Sie mussten die Scheiben freikratzen.
Der einsetzende Berufsverkehr war noch nicht dicht. Dühnfort fuhr an einer endlos scheinenden Reihe von Plakatwänden vorbei. Ein Dutzend Mal dasselbe Motiv: Alpenkette mit schneebedeckten Gipfeln, blauem Himmel und davor ein Glas Weißbier mit feinporiger Schaumkrone. Nun wohnte er schon sieben Jahre in München und war noch nie auf einem Berg gewesen. Sie lockten ihn nicht. Er liebte das Wasser, die Weite des Meeres, und wenn er die Nordsee schon nicht vor der Haustür hatte, dann wenigstens den Starnberger See, an dem sein Segelboot lag. Unwillkürlich seufzte er.
Fragend sah Gina ihn an. »Was ist?«
»Eigentlich nichts. Mir ist nur gerade aufgefallen, dass ich noch nie auf einem Berg war.«
»Echt? Da lässt du dir aber etwas entgehen.«
»Mich reizen sie nicht. Mir ist das Wasser lieber.«
Mit hochgezogener Augenbraue musterte sie ihn. »Da muss ich dich wohl bei Gelegenheit mal vom Gegenteil überzeugen.«
»Nur, wenn es eine Seilbahn gibt.«
»Ne, Gondel gilt nicht. Fürs echte Gipfelfeeling musst du selbst raufkeuchen. Ist auch gut für die Kondition.«
17
Sie erreichten den kleinen See in den Isarauen. Er war eingebettet zwischen Fluss und Isar-Kanal westlich von Unterföhring. Im Schritttempo fuhr Dühnfort am Ufer entlang. Die Wasserfläche lag ruhig und dunkel da. Ein feiner Nebelschleier schwebte darüber. Wer ging hier frühmorgens spazieren? Das Gebiet hatte vor einer Stunde sicher noch im Dunkeln gelegen.
Ein Stück weiter westlich lichteten sich die Bäume. Blaulichter rotierten im aufsteigenden Morgenlicht. Auf der Wiese am Ufer standen einige Fahrzeuge. Neben einem Streifenwagen entdeckte Dühnfort den silberfarbenen BMW von Ursula Weidenbach und Alois’ schwarzen Mini. Entweder hatte er alle Geschwindigkeitsbegrenzungen missachtet, oder er war tiefgeflogen. Im Rückspiegel tauchten schaukelnde Lichter auf. Buchholz kam mit seinem Team in zwei Bussen, die rumpelnd durch die Schlaglöcher fuhren.
Dühnfort hielt neben dem Streifenwagen und konzentrierte sich darauf, Ginas Vorgesetzter zu sein. »Na dann, Frau Kollegin.«
»Packen wir’s, Boss.« Gina lächelte, setzte ihr Ermittlerinnengesicht auf und stieg aus.
Der Weg verbreiterte sich Richtung Ufer zu einer kiesigen Zunge, die zum Wasser hin abfiel. Dort stand im fahlen Licht eine in einen weißen Overall gehüllte Gestalt. Dr. Ursula Weidenbach beugte sich über die am Ufer liegende Leiche, während Alois sich mit den beiden Schutzpolizisten unterhielt. Ein Stück entfernt lehnte ein Mann am Stamm einer Fichte. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Unter der Strickmütze lugten dunkle Locken hervor. Sein grauer Jogginganzug hatte feuchte Flecken auf der Brust.
Dühnfort ging zu Ursula Weidenbach, die aufblickte, als sie ihn bemerkte. Ein bedauerndes Lächeln zog über ihr Gesicht. »Eine hübsche junge Frau … Sie ist schon seit Stunden tot.«
Dühnfort sah sich um. Der Kiesstreifen war aufgewühlt. Hier hatte ein Kampf stattgefunden.
»Der Mann, der sie entdeckt hat, hat sie aus dem Wasser gezogen.« Ursula Weidenbach wies auf den Jogger, der nach wie vor am Baum lehnte wie erfroren.
Merde! Die Leiche war also bewegt worden. Und nicht nur das. Sie war mit fremden Spuren behaftet. Dühnfort betrachtete die Tote. Anfang zwanzig. Schulterlanges, schwarzes Haar. Einige nasse Strähnen klebten im Gesicht. Er erschauerte bei der Vorstellung, wie kalt sie sich bei dieser eisigen Temperatur anfühlen mussten. Doch die Frau fühlte nichts mehr. Ihr Teint war grau,
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