Schuld währt ewig
mehr auf seine Bauchgefühle hörte als auf Fakten achtete?
Zugegeben: Tino war trotz seiner seltsamen Art, an einen Fall heranzugehen, ein erfolgreicher Ermittler. Dennoch war er arrogant und immer ein wenig von oben herab. Hanseatisches Großbürgertum meets Oberpfälzer Wirtssohn. Welten prallten aufeinander. Wobei Alois alles daransetzte, jeden Hauch von Oberpfalz aus seiner Sprache und Erscheinung zu tilgen. Er war weder konservativ noch engstirnig oder kleingeistig. Er hatte die engen Gassen Regensburgs hinter sich gelassen, hatte Jeans und Lederhosen gegen dreiteilige Anzüge eingetauscht und stählte seinen Körper nicht länger in einem Hinterhof-Boxclub, sondern in einem exklusiven Fitnesstempel. Statt der Disco im Gewerbegebiet war das P1 angesagt. Anstatt Schweinsbraten mit Knödel gab es Vitello tonnato beim Italiener. Er war nicht länger der Depp vom Land. Aber allem Anschein nach der Depp vom Dienst. Flade. Dieser Nichtfall! So aufs Abstellgleis geschoben zu werden! Es war echt zum Kotzen. Das hatte er nicht nötig. Er würde sich umhören. Tino war nicht der einzige Leiter einer Mordkommission. Vielleicht wurde irgendwo eine Stelle frei.
Flade! Verdammter Mist! Wie konnte Tino so blind sein? Zeugenaussagen! Aus fünfzig Metern Entfernung! Bei Dämmerung! Vermutlich kam ihm dieser Nichtfall gerade recht. So konnte er Gina aufbauen. Er hatte es sich ja gleich gedacht, dass sie zur Fortbildung gehen würde. Gut, es gab Gründe. Sie war seit fünf Jahren im Team, und sie machte einen guten Job. Das musste er zugeben. Sie war clever und fleißig und außerdem eine nette Kollegin. Und ganz schön sexy. Er mochte Frauen, an denen was dran war. Diese Hungerhaken, bei denen man die Knochen zählen konnte, waren nichts für ihn. Da holte man sich blaue Flecken, und außerdem erinnerten ihn diese Beinaheskelette an seinen Beruf, und das konnte er im Bett nicht haben. Echt nicht.
Gina. Wenn sie nicht seine Kollegin wäre, hätte er es bei ihr längst mal versucht. Da aber keine seiner Beziehungen länger als ein paar Wochen hielt, war es besser, die Finger von ihr zu lassen. Es gäbe nur Stress am Arbeitsplatz. Und den brauchte er nicht. Den hatte er schon. Mit Tino.
Heute Morgen am See … Wie ausweichend Tino die Frage beantwortet hatte, ob Ginas Auto kaputt sei. Er hatte ihm nicht in die Augen geblickt, sondern knapp dran vorbei. Wie einer, der log. Lief da vielleicht etwas zwischen ihm und Gina? Doch diese Vorstellung war total absurd. Gina stand sicher nicht auf Weicheier.
Die Steigung des Laufbands erhöhte sich erneut. Die Geschwindigkeit blieb dieselbe. Im gleichmäßigen Takt seiner Schritte schwitzte Alois seinen Ärger aus.
Nach zwei Stunden im Fitness-Studio machte er sich auf den Heimweg. Es war eine sternenklare Nacht. Am Himmel über sich entdeckte er Orion. Der Weg von der U-Bahn-Station Lehel zu seiner Zweizimmerwohnung war nicht weit. Die kalte Luft tat gut, machte den Kopf klar und frei.
Er würde Tino beweisen, dass Flade Opfer eines Unfalls war. Einmal würde er recht behalten. Bingo.
Das Handy in der Halterung an seinem Gürtel begann die Telefonmelodie der CTU aus der Fernsehserie 24 zu spielen. Alois guckte aufs Display. Evi. Was wollte die denn? Um diese Zeit? Vielleicht war was mit Simon. Die Angst, seinem Sohn könnte etwas zugestoßen sein, durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag.
»Hallo, Lois. Wie geht’s?«
»Alles okay. Ist was mit Simon?«
»Nein. Wieso? Was soll sein?«
»Weil du mitten in der Nacht anrufst.«
»Mitten in der Nacht. Schlafst du scho?« Er hörte das Lächeln in ihrer Stimme. Evi. Eigentlich kannte er sie kaum. Sie waren in dieselbe Schule gegangen. Sie zwei Jahrgänge unter ihm. Ab und zu hatten sie im Starlight miteinander getanzt. Und dann war sie ihm bei der Maidult über den Weg gelaufen. Beinahe sechs Jahre war das her. Eine laue Frühlingsnacht. Ein paar Bier zu viel. Das Rauschen der Donau, das Zirpen der Grillen, ein heller Mond am Himmel, tiefe Schatten auf der Uferwiese. Ein One-Night-Stand, und neun Monate später war er Vater geworden. So schnell konnte das gehen. Seither hatte er immer Kondome dabei. Immer! Unwillkürlich fuhr seine Hand in die Manteltasche. Zwei Stück steckten darin. »Also, was gibt’s?«
»Ich wollt’ dir nur sagen, dass der Simon und ich nach München kommen. Ab Januar habe ich eine Stelle im Krankenhaus Rechts der Isar. Stationsschwester auf der Chirurgischen. Und eine Wohnung haben wir auch schon. Wir
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