Schuld währt ewig
Lippen nicht schmal waren. Wie sie das machte, hatte er bis heute nicht herausgefunden. Vielleicht lag es auch an der Stirn, die ungewohnt glatt dalag, wie dünnes Eis, durch das man jederzeit brechen konnte.
Was hatte er getan? Er hatte doch nur gesagt, dass er den Boden abschleifen … Merde! In seiner Vorstellung schlug er sich mit der Hand gegen die Stirn. Als er sich aus der Hocke erhob, knackte ein Kniegelenk. Er lehnte sich neben Gina ans Fensterbrett. Vorsichtig griff er nach ihrer Hand, in der Erwartung, dass Gina sie ihm entziehen würde. Doch das tat sie nicht. Er führte sie an seinen Mund und küsste die Innenfläche. »So, wie du das verstanden hast, habe ich es nicht gemeint.«
»Nicht?«
»Nein.«
»Wie habe ich es denn verstanden?«
»Als Absage an ein Zusammenleben.«
»Gut, dann habe ich mich wohl geirrt. Du willst den Boden abschleifen und die Wohnung so an deinen Nachmieter übergeben? Die Arbeit würde ich mir sparen.«
Irgendwie hatte sie ja recht. Er wollte nicht ausziehen. »Ich war schon vor zwanzig Jahren nicht der WG -Typ. Dafür bin ich zu pedantisch und zu eigenbrötlerisch. Ich bin einfach nicht WG -kompatibel. Stell dir mal Dorothee und mich gleichzeitig in der Küche vor.«
Ein widerwilliges Grinsen zog über Ginas Gesicht. »Also, zusammen kochen dürftet ihr nicht. So viel ist schon klar.«
»Und auch das gemeinsame Bad … Aus dem Alter bin ich einfach raus.«
»Willst du denn überhaupt mit mir zusammenziehen? Das ist doch die eigentliche Frage.«
Er küsste die Spitze ihres Zeigefingers. »Ja. Sofort …« Die letzte Silbe stieg ungewollt in die Höhe, ließ den Satz offen und unvollendet im Raum stehen, statt ihm Gewissheit zu verleihen.
Ginas Augenbrauen wurden zu fragenden Bögen. »Wenn …?«
Er seufzte. »Ich mag diese Wohnung.« Kuss auf den Mittelfinger. »Das Viertel, die Nähe zur Arbeit.« Seine Lippen berührten die Spitze des Ringfingers. »Den Blick auf den Friedhof … den Marmorengel … einfach alles.« Die Kuppe ihres kleinen Fingers war kalt. »Ideal wäre es, wenn du hier einziehen könntest. Aber dafür ist die Wohnung zu klein. Keiner von uns hätte einen Raum für sich. Und ich muss ab und zu die Tür hinter mir zumachen und alleine sein können.« Er umfasste ihre Finger mit beiden Händen, hielt sie fest, wartete ab, was sie sagen würde.
»Tja, dann müssen wir entweder anbauen, oder du musst langsam lernen, Kompromisse zu machen.«
27
Gut gelaunt betrat Dühnfort am nächsten Morgen das Polizeipräsidium. Das neue Bett hatten sie gestern noch eingeweiht und so den kleinen Disput über das künftige Zusammenleben beigelegt. Obwohl beigelegt es nicht so ganz traf. Beiseitegeschoben wäre die treffendere Formulierung, denn über seine Schwerfälligkeit, Kompromisse einzugehen, hatten sie nicht weiter gesprochen.
Flexibilität gehörte sicher nicht zu seinen Stärken. Vielleicht war er sogar ein wenig stur, wenigstens beharrlich. Mit Veränderungen tat er sich nicht leicht. Eine Menge Eigenheiten, die sein Leben nicht erleichterten. Und ein Zusammenleben mit ihm vermutlich auch nicht.
Als er den Besprechungsraum zum Morgenmeeting betrat, waren alle schon da. Alois und Sandra, Nicolas, Meo und Frank Buchholz hatten bereits am Tisch Platz genommen. Auch Gina. Zehn Minuten vor ihm hatte sie die Wohnung verlassen. Das Versteckspiel fing an, ihm auf die Nerven zu gehen. Es kostete Kraft und war auch ein wenig würdelos.
Er setzte sich und begrüßte das Team. Jens Flade. Martina Oberdieck. Zwei Fälle, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und in beiden steckten die Ermittlungen fest. Heute mussten sie weiterkommen, Durchbrüche erzielen. Sie brauchten neue Ansätze. »Gut, gehen wir es an. Was tut sich bei Flade?« Mit dieser Frage wandte er sich an Alois.
Er bot wieder einmal den Anblick, als sei er frisch gestylt einem Werbespot entstiegen. Perfekt sitzender Anzug, Button-down-Hemd, dezente Krawatte. Glatte Wangen, ein Duft nach Hugo Boss. Nun verschränkte er die Arme auf der Tischplatte. »Wir sind mit allem durch. Berufliche und private Unterlagen, Mitarbeiter, Freunde, Kunden, Familie. Weit und breit kein Mordmotiv in Sicht.«
Dühnfort gefiel diese Vorstellung nicht. »Das würde bedeuten, dass er zufällig Opfer wurde und zur falschen Zeit am falschen Ort war. Eine spontane Tat. Ein unkontrollierter Ausbruch von Hass und Wut.«
Sandra beugte sich vor und hob den Kuli, den sie in der Hand hielt, kam aber nicht zu
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