Schuld währt ewig
Wort.
»Der Fahrer hat fünfzehn Minuten auf Flade gewartet … Also, nach unkontrollierter Wut sieht das nicht aus«, warf Gina ein.
»Eher nach einem Unfall mit Fahrerflucht.« Alois hielt stur an seiner Meinung fest, und langsam verlor Dühnfort die Geduld.
»Wenn du Beweise dafür hast, leg sie vor, dann geben wir den Fall ab.«
Dühnfort bemerkte, wie Sandras Schultern sich strafften. »Hast du denn nicht …«
Doch Alois unterbrach sie. »Ausschlussverfahren. Niemand hat ein Motiv, und ich gebe Gina recht, wer so hassgeladen ist, dass er willkürlich jemanden tötet, um sich Luft zu machen, der sitzt nicht eine Viertelstunde ruhig in seinem Fahrzeug und wartet. Da hat jemand in aller Ruhe eine Zigarette geraucht oder telefoniert und gehofft, dass der Alkoholpegel etwas sinkt, und ist dann losgefahren. Leider hat er in der Dämmerung Flade übersehen. Niemand hat ein Motiv. Glaub mir.«
Sandra rutschte auf ihrem Stuhl nach vorne. »Sag mal, Alois, hast du denn Tinos Bericht nicht gelesen?« Sie fühlte sich sichtlich unwohl in ihrer Haut.
»Ich war gestern bis halb neun bei einer Befragung und habe heute noch nicht in den Akten gewühlt.« Unwillkürlich nahm Alois eine Abwehrhaltung ein.
»Es gibt im Fall Flade eine Parallele zum Fall Oberdieck.«
Dühnfort wurde hellhörig. »Welche Parallele?«
»Flade war vor fünf Jahren in einen tödlichen Verkehrsunfall verwickelt. Ein kleines Mädchen ist ihm direkt ins Auto gelaufen. Er hatte keine Chance, das zu verhindern. Er war nicht schuld. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.«
Immer dann, wenn Dühnfort richtig sauer war, wurde er ganz ruhig. »Kein Motiv in Sicht. Weit und breit nicht.«
»Das ist fünf Jahre her!«, konterte Alois. »Ich habe mit den Eltern des Kindes geredet. Beide haben ein Alibi, und die stehen wie in Beton gegossen. Ich habe sie schon geprüft. Außerdem sind die mit sich selbst beschäftigt. Die zerfleischen sich gegenseitig.«
»Darum geht es doch nicht! Ob die ein Alibi haben. Herrgott! Es gibt einen Zusammenhang zwischen den beiden Taten.« Dühnfort starrte über den Tisch zum Fenster. Der Tag wollte nicht hell werden. Eine Vermutung, die ihm ganz und gar nicht gefiel, stieg in ihm auf. »Zwei tödliche Unfälle, an denen niemand Schuld trug. In beiden Fällen wurden die Ermittlungsverfahren eingestellt. Und nun sterben Flade und Tina innerhalb kurzer Zeit auf dieselbe Weise, wie die Menschen, in deren Tod sie verstrickt waren. Wenn das so ist …« Mit Daumen und Zeigefinger massierte er sich die Nasenwurzel. Das Bild, das sich langsam in ihm formte, war erschreckend. »… dann haben wir es mit einem Täter zu tun, der eine sehr eigene Vorstellung von Gerechtigkeit hat, und zwar eine, die nicht mit unserem Strafrecht kompatibel ist. Er sorgt auf seine Weise dafür. Aug um Aug. Zahn um Zahn.«
Das war nun der Durchbruch, den er sich erhofft hatte. Ein Durchbruch, der außerdem beide Fälle auf überraschende Weise verband. Doch damit eröffnete sich eine Perspektive, die Dühnfort nicht gefiel. »Vielleicht ist er längst noch nicht fertig. Wir brauchen eine Soko.«
28
Um elf Uhr trafen sich die Mitglieder der Soko Rache erstmals im eigens dafür eingerichteten Raum in der zweiten Etage des Polizeipräsidiums. Zwölf Männer und Frauen aus drei Mordkommissionen, verstärkt von einigen Sachbearbeitern und Sachbearbeiterinnen, die Gina gerne als Bürofeen bezeichnete, umfasste die Truppe.
Die Magnetwand war bereits mit Fotos und Tatortskizzen bestückt und in den Soko-Raum geschoben worden. Als Dühnfort ihn betrat, standen die Mitglieder des Teams in Gruppen zusammen und unterhielten sich. Es roch nach Kaffee und staubiger Heizungsluft. Am Fenster rauchte Nicolas Stahl hastig eine Zigarette und blies den Rauch hinaus. Doch ein kalter Luftstrom brachte ihn zurück. Eine der Bürofeen hustete demonstrativ. Stahl drückte die Kippe auf dem Fensterblech aus und warf sie hinunter. Vor der Magnetwand stand ein Tisch und dahinter drei Stuhlreihen.
Im folgenden Briefing erläuterte Dühnfort die Fälle und die bisherigen Ermittlungsergebnisse. »Unser Täter wählt Menschen aus, die schuldlos – jedenfalls im strafrechtlichen Sinn schuldlos – in tödliche Unfälle verstrickt sind. Offenbar hat er ein übersteigertes Gerechtigkeitsbedürfnis und kann es nicht akzeptieren, wenn das Schicksal willkürlich zuschlägt. Wir sollten davon ausgehen, dass er selbst Opfer eines derartigen Schicksalsschlags ist. Jemand,
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