Schuld währt ewig
der einen ihm nahestehenden Menschen durch einen Unfall verloren hat, für den niemand zur Rechenschaft gezogen wurde.«
Moritz Russo, der nun mit seinem kompletten Team die Soko Rache verstärkte, meldete sich. »Wie schaut es mit den Angehörigen von Flades und Oberdiecks ›Opfern‹ aus? Sind die schon außen vor?«
»Lenas Eltern haben Alibis. Die Eltern von Steffi Schünemann sind verreist. Der Täter muss nicht unter den Angehörigen zu finden sein. Ich halte es sogar für ziemlich unwahrscheinlich. Weshalb sollten Lenas Eltern Steffis Tod rächen oder umgekehrt? Das macht keinen Sinn. Ich denke, der Täter hat selbst einen derartigen Schicksalsschlag erlebt und fixiert sich seither auf ähnliche Unfälle. Wie gelangt er an seine Informationen? Das ist die Frage. Wie wählt er seine Opfer aus? Liest er in der Zeitung von tragischen Unfällen und verfolgt, wie es weitergeht? Er könnte auch Arzt, Notarzt oder Sanitäter sein, jemand von der Feuerwehr, ein Ersthelfer, ein Journalist oder Polizist.«
Leichte Unruhe machte sich weiter hinten breit, wo Alois neben Nicolas Stahl saß.
Gina meldete sich. »Logisch wäre doch eigentlich, dass unser Täter sich an dem rächt, den er in seinem Fall für den Schuldigen hält. Warum tut er das nicht?«
Gute Frage. »Vielleicht steht er auf seiner Liste, aber nicht an erster oder zweiter Stelle. Ein Ablenkungsmanöver für uns? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist der ›Schuldige‹ von damals aber auch schon verstorben, oder er sitzt wegen einer anderen Sache im Gefängnis.
Was auffallend ist: Unser Täter hat einen langen Atem. Steffi Schünemann starb vor drei Jahren, Lena Meinhardt vor beinahe fünf. Weshalb erst jetzt dieser Rachefeldzug? Vermutlich gibt es ein auslösendes Ereignis dafür. Eine eingestellte Ermittlung, eine abgewiesene Klage. Etwas in dieser Art. Ich gehe davon aus, dass wir mit weiteren Taten rechnen müssen. Die Zeit sitzt uns also im Nacken.
Welche Gemeinsamkeiten gibt es im Leben von Jens Flade und Martina Oberdieck? Wo gibt es Überschneidungen in den Unglücksfällen? Ich möchte Aufstellungen mit allen Namen von Ersthelfern, Ärzten, Polizisten, Journalisten und so weiter. Außerdem sollten wir versuchen, den SUV im Fall Flade aufzutreiben. Ein Zeugenaufruf in der Presse wäre nicht schlecht.«
Er wies Gina Kollegen für diese Aufgaben zu. Alois und sein Team sollten die letzten Tage im Leben der Opfer rekonstruieren, Meo alle Telefonverbindungen und Mails nach Namen, Nummer und Absendern durchsuchen, die sowohl bei Flade als auch Martina erschienen. »Außerdem müssen wir potenzielle Opfer ausfindig machen. Moritz, kannst du das mit deinen Leuten übernehmen?«
»Klar, wenn du eine Idee hast, wie? Soweit ich weiß, existiert kein Verzeichnis aller Unfälle, an denen jemand schuldlos beteiligt war.«
Das war ein Problem. Und es gab eigentlich nur eine Lösung dafür: die Datenbank IGVP , in der alle, aber auch wirklich alle Polizeieinsätze erfasst wurden. Vom blinden Alarm über Ladendiebstahl, häusliche Gewalt und Nachbarschaftsstreitigkeiten bis hin zu Körperverletzung und Mord und Totschlag. »Ihr werdet euch durch unsere Vorgangsverwaltung wühlen müssen. Sucht nach allen unnatürlichen Todesfällen der letzten … sagen wir mal sechs oder besser sieben Jahre.«
Russos Stirn legte sich in Falten. »Das geht nur mit Freitextsuche. Echte Fieselarbeit, und vor allem wird es dauern. Und wenn wir alle unnatürlichen Todesfälle rausgefiltert haben, müssen wir checken, was daraus wurde. Einstellung der Ermittlung? Oder Prozess und Verurteilung? Das dauert. Dafür brauche ich Leute.«
Zwei Opfer innerhalb nur einer Woche. Sie mussten sich beeilen. Dühnfort ordnete etliche der Sachbearbeiter Russos Gruppe zu und beendete das Meeting. Es war Zeit, Steffis Eltern aufzusuchen. Auch wenn er sich davon nicht viel versprach.
29
Kurz nach zwölf. Graue Wolken standen am Himmel. Ein eisiger Wind wehte. In den Regen mischte sich Schnee. Genau wie vorgestern, als Dühnfort das erste Mal nach Olching gefahren war, um die Todesnachricht zu überbringen. Es wollte nicht hell werden. Die Lichter entgegenkommender Fahrzeuge verwischten im Rhythmus der Scheibenwischer.
Im Haus der Schünemanns war es kalt. Ein Koffer stand noch im Flur. Erst vor drei Stunden waren Steffis Eltern aus New York zurückgekehrt. Die Nachricht von Martinas Tod erschütterte sie nicht. Ausgleichende Gerechtigkeit. Sie wiederholten die Vorwürfe, die sie Martinas
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