Schuld währt ewig
Eltern seit Jahren machten. Solch ein Geschoss von Auto gehöre nicht in die Hände einer Fahranfängerin. Martina sei zu schnell gefahren. Die Geschichte mit dem LKW , der auf die andere Spur zog, sei erstunken und erlogen. Der Name Jens Flade sagte ihnen nichts. Erbitterung stand ihnen in die Gesichter geschrieben. Dühnfort verabschiedete sich. Das Gespräch hatte ihm die erwarteten Bestätigungen geliefert.
Er machte sich auf den Weg zurück in die Stadt. Bilder zogen durch seinen Kopf. Flade, der sein Büro verlässt, um nach Haus zu fahren, zu seiner hochschwangeren Frau, die auf ihn wartet. Er freut sich auf den Abend. Ein Geschäftspartner ruft an, als Flade auf den Gehweg tritt. Flade überquert telefonierend die Straße. Die nahende Gefahr nimmt er nicht wahr. Sekunden später ist er tot. Jemand hat sein Rachebedürfnis gestillt.
Etwas störte ihn an dieser Überlegung. Was? Er kam nicht darauf. Ein Schild kündigte einen Rastplatz in fünfhundert Metern an. Dühnfort fuhr hinaus, hielt in einer Parkbucht und schaltete den Motor aus.
Gegenüber ein Toilettenhaus. Holztische und Bänke. Die Silhouette einer Fichtenschonung dahinter. Regentropfen zerplatzten auf der Windschutzscheibe. Schneekristalle lösten sich auf.
Von einer Sekunde auf die andere war Flades Leben beendet gewesen. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Eigentlich ein gnädiger Tod. Ohne Leiden.
Dühnfort richtete sich auf. Das war es! Das störte ihn. Worin bestand die Rache, wenn das Opfer nicht litt und die Strafe nicht als solche begreifen konnte?
Ganz anders hingegen bei Martina. Sie war vertrauensvoll mit ihrem Mörder mitgegangen und hatte erst im Laufe der folgenden halben Stunde bis Stunde erkannt, was er wollte. Strafe. Sühne. Gerechtigkeit.
Dühnfort sah das Auto am Seeufer stehen. Martina auf dem Beifahrersitz. Sah, wie sie Worten lauschte, sich rechtfertigte, verteidigte, langsam ahnte, worauf es hinauslaufen würde. Er sah die Angst in ihren Augen, sah, wie sie mit zitternden Fingern die Tür öffnete, davonlief, spürte ihre Angst, ihren rasenden Puls, ihre Panik, als ihr Mörder sie einholte und überwältigte.
Mit beiden Händen massierte Dühnfort sich die verspannte Nackenmuskulatur. Das hast du genossen, diese Angst, die Panik. Jetzt litt auch sie. Das hat dir gefallen und dir Genugtuung verschafft. Diese Macht hast du ausgekostet. Bei Flade warst du zu schnell. Hattest du das am Ende vielleicht gar nicht richtig geplant?
Dühnfort ließ die Hände sinken. Ja. Das war gut möglich. Eine übereilte Tat. Irgendetwas ist an diesem Tag geschehen und hat das Fass voll Hass und Rachebedürfnis in dir zum Überlaufen gebracht. Aber das Gefühl der Genugtuung hat nicht angehalten. Flade musste nicht leiden, verstand nicht, was eigentlich geschah. Du hast deine Botschaft nicht angebracht. Beim nächsten Mal hast du das besser gemacht. Martina hatte Angst, sie musste leiden. Und das hast du genossen. Vielleicht nicht zum ersten Mal. Hast du ihr in den Tagen davor schon Angst eingejagt?
Dühnfort zog das Handy aus der Tasche und rief Meo an. »Wie weit bist du mit den Anrufen, die Martina in den Tagen vor ihrem Tod erhalten hat?«
»Sind alle identifiziert. Ihre Eltern, ihre Freundin Resa, ein paar Studienkollegen, eine ältere Dame, vermutlich eine Verwandte. Keine unterdrückten Rufnummern.«
»Und die Mails?«
»Ihr Laptop ist verschwunden, wie du weißt. Vom Provider haben wir Zugang zu ihrem gmx-Account erhalten. Dort sind zwar einige Mails gespeichert, die sind aber alle harmlos.«
Dühnfort dankte Meo und legte auf. Es gab eine weitere Möglichkeit.
Bevor er losfuhr, beobachtete er noch einen Moment das Spiel des Schneeregens auf der Scheibe. Kurz bevor er die Stadtgrenze erreichte, rief er Resa an und fragte, ob sie daheim war und er in die Wohnung konnte. Anderenfalls hätte er erst den Zweitschlüssel, den ihm Martinas Eltern gegeben hatten, aus dem Büro holen müssen. Doch Resa war da und ließ ihn zwanzig Minuten später ein.
Er riss das Siegel auf, mit dem Martinas Zimmer verschlossen war, und trat ein.
Der Raum lag so vor ihm, wie er ihn nach der ersten Inaugenscheinnahme verlassen hatte. Ein gemäßigtes Chaos. Dühnfort zog den Mantel aus, Latexhandschuhe über und begann mit der Suche. Auf dem Schreibtisch ein Wust von Büchern, Heften, Kopien, Quittungen, Stiften, Rechnungen, Zetteln und Ähnlichem mehr. Systematisch arbeitete er sich von links nach rechts voran, hob jedes Stück an, drehte es um,
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