Schuld währt ewig
ist.«
»Und Ihr Mann?«
»Anfangs wollte er ihn aufsuchen und zur Rede stellen. Das war zu der Zeit, als er ihn für Lenas Tod verantwortlich gemacht hat. Später dann nicht mehr.« Ihr Blick ging in die Ferne. Langsam gab sie ihre abwehrende Haltung auf und entspannte sich. Alois sah, wie die Schultern herabsanken.
»Wir haben einen zweiten Fall. Den Mord an einer Studentin. Mein Chef vermutet einen Zusammenhang. Haben Sie den Namen Martina Oberdieck schon einmal gehört?«
Mit einem Kopfschütteln wollte sie die Frage verneinen, hielt aber mitten in der Bewegung inne. »Martina Oberdick? Irgendetwas … Doch, den Namen kenne ich irgendwoher.«
Alois war plötzlich elektrisiert.
Mit der Linken fuhr sie sich über die Stirn. »Martina … Oberdick. Doch. Jetzt weiß ich es. Oberdick, dabei war sie so dünn.« Die Hand sank herab. Ihre Augen ruhten nun auf ihm. »Sie ist mit ihrem Auto in einen Fluss gestürzt, und ihr Freund starb dabei. Oder war es eine Freundin?«
»Es war die Freundin. Woher kennen Sie Martina?«
»Ich habe sie nur einmal gesehen. Kennen wäre also zu viel gesagt.« Wieder zog sie an der Zigarette und blies den Rauch zum Fenster hinaus. »Das ist sicher zwei Jahre her. Vielleicht auch länger. Jedenfalls war es in der Zeit, als ich mit Therapie und Selbsthilfegruppen versucht habe, über Lenas Tod hinwegzukommen. Solche Gruppen gibt es nicht nur für verwaiste Eltern. Es gibt auch eine für Menschen wie Jens Flade und Martina Oberdick. Schuldlose Schuld oder so ähnlich heißt sie. Und diese Gruppe hatte zu einem Gesprächskreis eingeladen. Anfangs dachte ich, es wäre eine gute Idee, dorthin zu gehen und zu sehen, dass ich nicht die Einzige bin, die leidet, dass sich auch die quälen, die eigentlich nicht schuld sind, denen das Schicksal genauso übel mitgespielt hat. Und dort war auch Martina. Als sie sich vorgestellt hat, ist mir der Name aufgefallen und ich habe mir gedacht, dass er zu diesem dünnen Mädchen nicht passt. Deshalb kann ich mich überhaupt an sie erinnern. Sonst hätte ich sie sicher längst vergessen.«
»Und Jens Flade war auch dort?«
»Nein. An diesem Abend nicht. Als ich mich verabschiedete, habe ich aber gehört, wie jemand seinen Namen nannte. Offenbar war er Mitglied in dieser Gruppe. Deswegen bin ich kein zweites Mal dorthin gegangen. Ich wollte ihm nicht begegnen.« Auf dem Fensterblech drückte sie die Zigarette aus und warf die Kippe in den Hof. »Meine Pause ist um.«
Alois verabschiedete sich und lief durchs Treppenhaus hinunter. Mist. So, wie es aussah, hatte Tino recht.
32
Kurz nach vier stieg Sanne in den Porsche und machte sich auf den Weg zum Ostfriedhof. Wie jedes Jahr an diesem Tag wollte sie auch heute Ludwigs Grab aufsuchen. Weshalb ihr dieser Besuch so wichtig war, konnte sie nicht sagen. Einfacher wäre es, zu vergessen, statt sich zu erinnern. Doch dieser Tag stellte eine Zäsur in ihrem Leben dar. Alles hatte sich danach verändert. Nichts würde je wieder so sein wie früher. Das wollte sie sich bewusst machen. Und sie wollte Ludwig nicht vergessen, diesen fröhlichen, ungestümen und wilden Jungen, der jetzt elf Jahre alt wäre, langsam in die Pubertät käme und ganz sicher die Nerven seiner Eltern strapazieren würde, wenn nicht … Rote Lichter leuchteten vor ihr auf. Sanne trat auf die Bremse und kam gerade noch hinter dem vorausfahrenden Lieferwagen zu stehen.
Sie musste sich konzentrieren, sonst würde sie noch einen Unfall bauen. Weshalb war sie so nervös? Am Todestag konnte es nicht liegen. Es war schlimmer als in den Jahren davor.
Seit sie den Artikel über den Mord an Jens entdeckt hatte, begleitete diese Unruhe sie, und das machte sie wütend. Wütend auf sich, auf Evelyn, überhaupt auf alle.
Was war es, das sie derart aus dem Gleichgewicht brachte? Sie hatte Jens kaum gekannt. Die Todesnachricht alleine konnte es nicht sein … Und war es auch nicht. Als Thorsten ihr gesagt hatte, dass Jens verunglückt war, hatte sie das zwar schrecklich gefunden, doch es hatte sie nicht tief berührt. Erst seit sie wusste, wie er gestorben war, war sie beunruhigt. Die Ampel schaltete auf Grün. Die Wagenkolonne vor ihr setzte sich in Bewegung, auch Sanne fuhr an.
Jens war damals in die Gruppe gekommen, weil er mit dem Tod des Mädchens, das ihm ins Auto gelaufen war, nicht fertig wurde. Er hatte nicht einmal Zeit gehabt zu bremsen. Und nun war er tot. Überfahren … Genau wie das kleine Mädchen! War es das, was sie aus dem
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