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Schuld währt ewig

Schuld währt ewig

Titel: Schuld währt ewig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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Gleichgewicht brachte?
    Seit Jahren wurde sie von der unausgesprochenen Angst begleitet, irgendwann für Ludwigs Tod bezahlen zu müssen. Eine ausgleichende Gerechtigkeit würde Unglück mit Unglück vergelten, ein Schicksalsschlag die Waagschalen ins Gleichgewicht bringen. Ludwig war tot. Ihr ging es gut. Eine schreiende Ungerechtigkeit.
    Bei Jens hatte das Schicksal … Nein, nicht das Schicksal! Er war ermordet worden. Er war auf dieselbe Art gestorben wie das Mädchen. Das war doch sicher kein Zufall. Hatten sich etwa die Eltern des Kindes gerächt?
    Quatsch. Sie hatte zu viel Phantasie. Was wusste sie schon, wen Jens sich zum Feind gemacht hatte. Das hatte nichts mit ihr zu tun. Kein Grund, sich verrückt zu machen. Evelyn schrieb böse Postkarten. Früher waren es Briefe gewesen. Das ließ sich ertragen. Sie würde nicht plötzlich auftauchen und Sanne … Ja was? Aus dem Fenster werfen?
    Diese Postkarte. Ein solches Motiv konnte man nicht kaufen. Evelyn hatte es selbst fotografiert. Sie hatte sich viel Mühe gemacht und schien genau zu wissen, dass Sanne Höhenangst hatte. Seit Ludwig zu Tode gestürzt war, konnte sie nicht einmal mehr auf einen Jägerstand klettern, ohne Panikattacken zu bekommen. Doch woher wusste Evelyn das?
    Von einer Sekunde auf die andere stellte sich das Gefühl ein, beobachtet zu werden. Ein Hupen ließ sie hochschrecken. Beinahe hätte sie das Auto auf der Nebenspur touchiert. Sie riss sich zusammen, verdrängte alle unheimlichen Gedanken und erreichte ohne weiteren Beinaheunfall den Friedhof.
    Als sie durch das Tor trat, wurde es bereits dunkel. Laternen beleuchteten die Wege zwischen den Grabfeldern. Bald schloss der Friedhof. Sie kam immer spät, denn sie wollte auf keinen Fall Evelyn und Nils begegnen.
    Das verrottende Laub dämpfte ihre Schritte. Eine Insel aus Stille umgab sie. Nur schwach klang der Verkehrslärm über die Mauern. Die Kälte drang durch den Mantel. Der Weg war ihr vertraut. Nach ein paar Minuten erreichte sie das Grab.
    Ein Strauß frischer Blumen lag darauf, in einer Laterne brannte eine Kerze. Noch nicht lange. Die Spitze war noch nicht heruntergebrannt. Evelyn und Nils mussten erst vor wenigen Minuten hier gewesen sein. Unwillkürlich sah Sanne sich um, entdeckte aber niemanden. Sie holte den Stoffaffen aus der Tasche und setzte ihn vor den Stein. Vor einem Jahr hatte sie Ludwig einen Eisbären mitgebracht. Ludwig. Ihr Herz zog sich zusammen. Plötzlich sah sie seine Augen vor sich, hörte sein Lachen und sein Maulen. Ich will die Gummimiefel nicht anziehen. Kaufst du mir ein Überraschungsei? Noch eine Geschichte! Bittebittebitte!
    Es tat ihr so leid. So unendlich leid! Wie hatte das nur geschehen können? Es war so ungerecht. Warum er? Das Licht der Laternen schien dunkler zu werden, ein Schatten schien sich über sie zu legen. Nicht schien. Da war jemand. Sie fuhr herum, nahm eine Gestalt wahr. Ein Stoß gegen die Schulter. Sanne stolperte und fing sich gerade noch. Evelyn!
    »Du bist so etwas von unverfroren!« Im fahlen Licht wirkte Evelyns schmales Gesicht gespenstisch bleich. Sie war schon immer sehr schlank gewesen, doch nun schien es, als ob der schwarze Wollmantel Haut und Knochen zusammenhielt. Sie kam einen Schritt näher. Unwillkürlich wich Sanne aus. »Ich wollte doch nur …«
    »Hau ab!« Ein weiterer Stoß traf sie. Eine dunkle Strähne löste sich aus Evelyns Haar, blieb im Mundwinkel hängen. »Verschwinde! Mörderin!«
    Ein Klumpen setzte sich in Sannes Hals, erstickte jede Erwiderung. Was sollte sie auch sagen? Taumelnd trat sie zur Seite, bereit zur Flucht. »Ich kann doch nichts dafür. Es …«
    Evelyns Stimme wurde schrill. »Wag es ja nicht, noch einmal an Ludwigs Grab zu kommen. Du Verbrecherin!«
    Fassungslos starrte Sanne Evelyn an. So viel Hass und Verbitterung. Sie konnte es nicht verhindern. Tränen stiegen ihr in die Augen.
    »Aber du wirst deine Strafe noch kriegen.« Evelyn holte zu einem neuen Stoß aus.
    Wieder wich Sanne aus. Es hatte keinen Sinn. Besser, sie ging. Erneut hob Evelyn die geballte Faust. Auch dieser Schlag ging ins Leere. Evelyn taumelte. »Eines Tages wirst du dafür büßen. Das verspreche ich dir.«
    Aus der Dunkelheit jenseits der Lichtinsel trat jemand. Nils. Sie hätte ihn beinahe nicht erkannt. Der fröhlich-freche Blick, den Ludwig von ihm gehabt hatte, war verschwunden. Er wirkte zutiefst unglücklich und um Jahrzehnte gealtert. Behutsam griff er nach Evelyns Arm, zog seine Frau an sich und

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